Gudrun, Robert, Knut und Ebay (die Zweite)

Knut war mit weißen Pickeln übersät. Planlos trudelte er von einer Seite des Beckens zur anderen. Gudrun saß mit zerrauften Haaren und verzweifelter Miene vor dem Computer und irrte durch Aquarianer-Portale.
Robert war das egal. Mittags hatte ihm UPS endlich die neueste Erwerbung geliefert, den Turbo-Pediküre-Fräser, vor einer Woche bei Ebay ersteigert. Siegesgewiss stürmte Robert ins Wohnzimmer, riss das Einwickelpapier von dem Päckchen und die Socken von seinen Füßen. Die Handhabung war denkbar einfach. Wenige Minuten später sirrte bereits der Motor, 25 000 Umdrehungen pro Minute, stufenlos regelbar.
Gudrun hatte inzwischen den Upszusteller mit Beschlag belegt. Der Upser war ein breitschultriger junger Mann mit blonder Mähne und goldenen Ohrringen. Das Emblem eines Angelvereins auf seiner Schirmkappe wies ihn als Fischkenner aus. Gudrun packte ihn am Ellbogen und steuerte ihn vor das Aquarium. »Stell das doch endlich ab!«, fuhr sie zwischendurch Robert an, der mit der Grobfräse über seine Zehennägel fuhr.
Robert rutschte aus und bohrte die Spitze ins Nagelbett. »Au!!«
»Wenn ich nur wüsste, was Knut hat.« Gudrun wies auf den verpickelten Goldfisch.
»Mein Fuß, aua!« Die obere Hälfte des Nagels war abgerissen. Robert schmiss die Grobfräse in die Ecke. Mühsam erhob er sich, den großen Zeh abgespreizt.
»Der Knut sagt auch gar nix!« Gudruns Stimme schraubte sich zu dramatischer Höhe.
»Na toll!«, knurrte Robert, hinkte auf der Ferse hinaus und zog dabei eine Blutspur hinter sich her. Der abgerissene Nagel hing nur noch an einer Ecke fest. Ihn ganz abzurupfen, hätte Kafkas Strafkolonie in den Schatten gestellt. Robert nahm sich ein frisches Handtuch, machte es nass und wickelte es um den großen Zeh. Es schmerzte höllisch. Überall klebten rote Fingerabdrücke.
Aus dem Wohnzimmer war ein lautes Platschen zu hören und ein empörtes »Aäääääh!« des Paketzustellers.
»Entschuldigen Sie«, stotterte Gudrun. »Das macht er immer! Immer! IMMER!«

Die Welt in voller Farbenpracht

Dank Verpflanzung von Genen in die Netzhaut,
schreibt die Zeitung,
sehen Mäuse in amerikanischen Versuchslabors
erstmals die Welt
bunt.
So bunt wie sonst nur
Menschen und andere Affen.

So schreibt die Zeitung.

Trotzdem war mir der Tag
grau.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

Ich frage mich mal wieder, was sie sich denken, diese Fremden, die mit Telefonstimme sagen: "Wenden Sie sich an das Sekretariat", wenn sie genau wissen, dass das Sekretariat seit Tagen nicht besetzt ist; die sagen: "Kommen Sie mit den Unterlagen vorbei", wenn sie genau wissen, dass vierhundert Kilometer zwischen ihnen und mir liegen; die mit Tonbandstimme ventilieren: "Sie rufen außerhalb der Bürozeiten an, wir sind werktags zwischen neun und zwölf Uhr vormittags erreichbar", wenn es genau zehn Uhr dienstagsvormittags ist, und die abschließend fragen: "Wollen Sie nicht doch bei uns weitermachen?", wenn sie genau wissen, dass genau das nicht geht.
Alles wiederholt sich. Auch der Wunsch zu glauben. Von vorn zu beginnen, unbefangen und neugierig wie einst. Der Zauber ist nicht wiederherstellbar. Im Fernsehen (Avenzio) bekommt einer den Lehrvertrag zum Floristen, weil er den Probestrauß so schön spiralig gebunden hat, dass man ihn kopfunter an einem einzigen Stengel halten konnte, ohne dass er auseinanderfiel. Auch uns hat man gebunden, schön rundherum, und wir sind gefallen. Jeder nach seiner Seite hin. Jeder hat in seiner Art versagt. Um uns herum blühen die Tulpen protzig kerzengerade, läuten ohrenbetäubend die Osterglocken, jeder nimmt den Faden wieder auf und alle sollen es wissen: Wir sind noch am Ball! Wir sind auf Draht! Schlappe Rosen, habe ich in einem Forum gelesen, bringt man wieder in Form, indem man sie erst in brühheißes Wasser, dann in den Kühlschrank legt. Ich habe es versucht mit meinen Geburtstagsrosen im Februar. Sie haben die Köpfe gehoben, fünf Minuten lang, und sie dann um so tiefer gesenkt, jede nach ihrer Seite hin.
Neulich habe ich bei einer Lesung ein Gedicht über eine Kuh gehört, das fast nur aus den Worten "rupf" und "zupf" bestand. Das Publikum war begeistert. Ich habe mir oft gewünscht, mit tiefer Stimme lesen zu können, aus dem Bauch heraus; aber wenn ich es versuche, staut sich der Atem um den Magen herum und der Nacken beginnt zu zittern. Einmal so beginnen können, rupf und zupf. Es geht nicht. Ein Krampf erfasst den Nacken und lässt erst nach, wenn ich den Kopf senke, auf die Brust hängen lasse, tief nach vorne. Verspielt der Anfang.

Ebay, die Erste

Das ideale Geschenk für meine jüngere Tochter, hat sich unsere ältere Tochter eingebildet, ist eine Kuckucksuhr, bei der zu jeder vollen Stunde kein Kuckuck, sondern ein Schäfchen aus dem Türchen kommt und "bäääh!" schreit.
Wie alles andere gibt es diese Uhr bei Ebay. Meine ältere Tochter bestellt die Uhr über meinen Account, einen eigenen hat sie nicht.
Die Uhr trifft pünktlich ein. Hübsch bunt aus Vollplastik. Batterien sind selbstverständlich nicht im Lieferumfang. Wir kratzen das Styropor ab und öffnen die rückwärtige Klappe. Klasse - da müssen vier Batterien rein. Drei dicke und eine dünne. Die dünne ist für das Uhrwerk. Die drei dicken für die Mechanik und die Beschallung. Das Bäh.
Batterien finden sich, wir klemmen sie an die vorgesehenen Steckplätze, hängen das Pendel unten an und stellen die Uhr auf. Pünktlich zur vollen Stunde öffnet sich das Türchen. Etwas kommt heraus und schreit "bäääh!" Ein kopfloses Horrormonster. Ehe wir richtig erkennen können, was es vorstellt, ist es auch schon wieder hinter der Tür verschwunden. Ist vermutlich besser so.
Die Tür ist doppelflügelig, aus grünem Plastik. Ohne die nächste volle Stunde abzuwarten, ziehen wir sie mit Gewalt auf. Ja, da steht so was wie ein Schaf - aber es hat keinen Kopf. Ich hole den kleinsten Schraubenzieher, den ich sonst für die Nähmaschine benutze, und schraube das Uhrgehäuse auf, in der Hoffnung, dass der Kopf lose drin herumkullert. Dann könnte man ihn vielleicht wieder feststecken, wie den Orkkopf in "Die zwei Türme". Leider sind wir weder in Rohan noch bei Frankensteins. Der Kopf ist nicht da. Was tun?
Ich schreibe der Verkäuferin eine Mail. Sie antwortet: "Vielleicht ist der Kopf in der Uhr? Das wäre aber traurig!"
Nein, der Kopf ist nicht in der Uhr, und sie soll bitte voranmachen und mir einen neuen Kopf schicken, antworte ich. Die Uhr ist für einen Geburtstag. Der Geburtstag ist morgen!
Kurz darauf Antwortmail: "Der Kopf ist unterwegs."
Klasse. Es vergehen vier Tage. Hoffentlich bringt der Postbote auch den richtigen Kopf. Es gibt die Uhr in drei Designs, wahlweise außer mit einem Schaf auch mit einer Kuh (die schreit dann nicht Bäh, sondern Muh) und mit Schweinchen (nöff nöff). Nicht auszudenken, wenn jetzt ein Schweinskopf anrollte, der "bäääh" schreit. Ich sehe meine Tochter schon auf Lebenszeit in der Geschlossenen, unrettbar traumatisiert.
Heute kommt ein Riesenpaket an. Nein, das kann nicht der Kopf sein, es sei denn, es gibt noch ein viertes Design. Vielleicht der Kopf von Dieter Bohlen oder Orlando Bloom? Nein, es ist eine komplett neue Uhr. Das heißt, die Uhr ist neu. Komplett ist sie nicht. Es fehlen das Pendel und der Sekundenzeiger. Egal, Hauptsache es ist ein Schaf mit Kopf drin! Wir stecken die Batterien rein, drehen behutsam die Zeiger auf die volle Stunde - die doppelflügelige grüne Tür bleibt zu! "Bääääh!", schreit es verzweifelt dahinter.
Wieder kommt der Schraubenzieher zum Einsatz. Vielleicht finden sich im Gehäuse doch noch das Pendel und der Sekundenzeiger? Vielleicht sogar ein überzähliger Kopf zu dem ersten Schaf? Hoffen kann man immer. Ja, da steht ein Schaf. Es hat auch einen Kopf. Es kann nur nicht durch die Tür. Die klemmt.
Ein leichter Druck von innen lässt sie aufspringen. Dass das Pendel fehlt, soll uns auch nicht kümmern - wir nehmen das von der anderen Uhr. Die steht jetzt übrigens bei mir im Hinterzimmer. Vielleicht hänge ich sie einfach auf, ohne Pendel und ohne Kopf. Oder ich suche mir einen passenden Kopf dazu. Leider sind die Köpfe, die ich gern dafür hernehmen würde, alle zu groß, um durch die doppelflügelige grüne Tür zu passen. Aber die könnte man ja eventuell ein bisschen größer sägen. Die Säge brauchen wir ohnehin.
Für den Kopf.


(Fortsetzung folgt.)

Bertha

Der Garten ist grau und trostlos, die Wiese von kahlen Stellen durchsetzt, in den Erdlöchern sammeln sich schlammige Pfützen. Das Kaninchen ist bei Wind und Wetter draußen und rupft die kümmerlichen Grashalme ab, scharrt unter dem Zaun oder liegt mit ausgestreckten Hinterbeinen da. Besonders dann, wenn die Sonne sich einen halben Tag lang durch das Grau des nassen Märzhimmels kämpft.

Bertha beobachtet das Kaninchen von einem sicheren Standpunkt aus, hinter der Gardine des Wohnzimmerfensters. Mit seinem weiß und schwarz gefleckten Fell ist das Tier auf der wintermüden Wiese leicht auszumachen. Tagsüber läuft es frei umher; sich unter dem Zaun hindurchzugraben, ist es zu groß. Abends kommt es in einen Hasenstall an der Hauswand. Bertha hat meistens keine Probleme, das Kaninchen einzufangen; es ist handzahm, außerdem nicht mehr jung und schon ein wenig schwerfällig. Seit sein Lebensgefährte, ein schwarzer Kaninchenbock, im Winter starb, ist es noch viel langsamer geworden.

Tagsüber geht Bertha ihrer Arbeit nach: Staub wischen, Teppiche absaugen, das alte Silberbesteck putzen, die Fotos ihrer Enkelkinder anschauen und neu ordnen, die Klaviertastatur abreiben und ein paar Töne anschlagen. Sie lässt sich Zeit dabei. Zwischendurch zieht es sie immer wieder zum Fenster. Von ihrem sicheren Standort hinter der Gardine aus sieht sie dem Kaninchen zu, wie es lange, lange Zeit ausgestreckt auf dem Rasen verharrt. Sie hat versucht, einen neuen Freund für das einsame Tier zu finden. Aber das ist nicht so einfach. Im Tierheim gibt man ihr kein Kaninchen, weil der Nachtstall angeblich zu klein ist. Dass tagsüber der ganze Garten als Auslauf zur Verfügung steht, zählt nicht als Ausgleich. Kaninchenzüchter verlangen hohe Preise für ein junges Männchen und da Bertha nicht züchten will, müsste sie überdies eine Kastration bezahlen. Und was hat es für einen Sinn, der alten Kaninchendame noch einen Partner zu besorgen? Sie wird bald sterben und dann steht Bertha wieder vor dem gleichen Problem.

Lange Zeit steht sie hinter der Gardine und schaut dem trauernden Tier zu. Endlich erträgt sie es nicht mehr. Sie wird das Kaninchen weggeben.

Drei-, viermal kommen Leute, die ihren Aushang am Schwarzen Brett des Supermarkts gesehen haben: "Stallkaninchen zu verschenken". Das Kaninchen wird gemustert, nach Fleisch und Fell abgeschätzt und für uninteressant befunden. Als Kuscheltier für ein Kind ist es zu groß. Es ist zu nichts nütze, wie es da auf dem Rasen liegt, im vor Nässe triefenden Gras. Mittlerweile ist es April und der Himmel hängt voller Frühjahrsstürme. Das Kaninchen wird immer langsamer und verkriecht sich halbe Tage in der Hecke. Oft kommt es erst mittags auf die Wiese hinaus und rupft Gras ab, mit gleichmütigem Auf und Ab der Nase.

Eines Morgens blüht der Kirschbaum. An seinem Fuß sind rote Tulpen aufgesprungen. Bertha zieht die Gartenhandschuhe an und geht hinaus, kratzt mühsam das letzte welke Laub von den Beeten und überlegt, was sie dieses Jahr pflanzen wird. Das Kaninchen liegt am Zaun und sieht ihr zu, die Hinterbeine lang von sich gestreckt, die gefleckten Ohren angelegt. Sein Blick ist stumpf.

Am Nachmittag fährt Bertha zum Züchter und besorgt einen jungen Kaninchenbock, weiß mit schwarzen Flecken. Im Schutz der Hecke, die grüne Knospen ausgetrieben hat, lässt sie ihn frei. Die beiden Tiere mustern einander aus sicherer Entfernung, während Bertha in dicker Jacke und Gummihandschuhen einen Sack Pferdemist in die Erde einarbeitet. Manchmal dreht sie sich um und beobachtet die Kaninchen, die über die Breite der Wiese hinweg Blicke tauschen.

Kaninchen sprechen nicht.

Eine Versammlung von Genies ...

... so scheint mir manchmal ein bestimmtes Literaturforum, in das ich zum Lesen komme, um mich nach einer halben Stunde Lesezeit und schüchternem Hüsteln ehrfürchtig wieder zu verdrücken.

Den Rest gibt mir dann das Folgende:
[Herr Casaubon] hatte Vermögen, er hatte seine umfangreichen Notizen angesammelt, und er hatte sich jenen Ruf verschafft, der der eigentlichen Ausführung eines Werks vorangeht - nicht selten der größere Teil des Ruhms, den ein Mann erlangt. Wie wir gesehen haben, nahm er sich eine Frau, um das letzte Viertel seines Lebensweges zu veschönern, eine Frau, die als Trabant wohl kaum eine ins Gewicht fallende Störung seiner Bahn verursachen würde. (...) [Miss Brooke] betrachtete die Welt nicht von dem einer Frau angemessenen Blickpunkt. Der Umgang mit solchen Frauen war so erholsam, als würde man nach getaner Arbeit noch Unterricht geben, anstatt sich in einen Paradiesgarten zu legen, wo süßes Lachen den Vogelsang und blaue Augen den Himmel ersetzten.
(aus: George Eliot / Rainer Zerbst, Middlemarch )

Mir werden die Schwingen des Geistes zu abgehackten Stümpfen und der Geist zu einem demutsvollen Schneck. (Wobei mir sofort wieder jene Frau in "David Copperfield" in den Sinn kommt, die ihrem erwachsenen Sohn zuzurufen pflegte: "Ury! Sei demütig!") Besser, ich mach den Läptop zu, widme mich wieder dem Sockenstricken und überlasse das Schreiben denen, die es schon vor hundertfünfzig Jahren besser konnten, als ich es je Aussicht habe zu lernen.

"Gepriesen sei derjenige, der nichts zu sagen hat und davon absieht, es zu beweisen."
George Eliot

Günther konnte nicht mehr richtig kucken ...

Irgendwas stimmte mit seinen Augen nicht. Er hob die Bierflasche und blinzelte auf das Etikett. Das konnte er gut lesen, auch das klein Gedruckte. »Die Gesundheitsministerin: Alkoholische Getränke gefährden das klimatische Gleichgewicht. Dieses Produkt ist von bester Qualität und nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft hergestellt. Sollten Sie trotzdem Nebenwirkungen verspüren, befragen Sie Ihren Arzt.«

Was war das für ein Quatsch? Politiker dachten sich so etwas nicht aus, die redeten doch immer den Wählern nach dem Mund. Irgendeine schwachsinnige Gesundheitslobby wahrscheinlich. Das Rauchen hatten sie ihm schon verleidet. Günther rauchte seit zwei Jahren nicht mehr. Seit dem Jubiläum seines Kegelvereins. In einem Regal des Wohnzimmerschranks stand ein Gruppenfoto der Kegelbrüder. Eine ganze Reihe Männer war darauf und dahinter hing ein Spruchband »20 Jahre Ruhige Kugel«. Die Schrift war klar und scharf. Die Gesichter der Männer sahen aus wie grauweiße Wolken.

Hinter ihm dozierte der Fernseher: »Die Mehrheit der Bevölkerung hat den Nutzen kontranslationaler Sequestrierung längst akzeptiert. Sie leben, mit Verlaub, hinter Proxima Centauri!«

Günther ging in die Küche zurück und kippte das Bier entschlossen in den Ausguss. Ihm war ein wenig übel.

Bäckerwagenfahrerberufsrisiko

„Du musst dir selbst ein Ablenkungsmanöver ausdenken“, sagte er sich mit mörderischer Ruhe. (Joseph Hayes)


Martin zieht seine Hose an. Diese einfache Handlung fällt ihm nicht mehr so leicht wie ehedem und wird mit jedem Tag schwieriger. Vorgestern ist ihm der Hosenknopf abgesprungen und kreuz und quer durch das Zimmer geschossen wie ein Querschläger. Den Knopf wieder anzunähen, hat Martin sich geschenkt. Er schließt die Hose stattdessen mit dem Gürtel, den er ein Loch weiter stellt. Der Reißverschluss geht zwar immer wieder auf, aber das verdeckt Martin mit langen Pullovern.

Da Martin keine Waage besitzt, hat er lange Zeit für das Hosenproblem einleuchtende, entlastende Erklärungen gesucht. Er ist in eine Erdgeschosswohnung gezogen und muss keine Treppen mehr steigen, zum Beispiel. Noch besser: die Hose ist eingelaufen. Irgendwann muss Martin der Wahrheit ins nackte Auge sehen. Die Wahrheit ist: der Bauch kommt von der sitzenden Lebensweise. In seinem neuen Job sitzt er den ganzen Tag. Genau gesagt, er sitzt am Steuer des Verkaufswagens einer Bäckerei. Während er stundenlang über schlaglochdurchsetzte Landstraßen schaukelt, um auch ins entlegenste Kuhkaff frische Brötchen zu bringen, hüpfen hinter ihm duftende Hefeteilchen, knusprige Croissants und sahnige Erdbeerschnitten auf ihren Blechen herum. Martin darf essen, soviel er will. Das hat ihm sein Chef gleich am ersten Arbeitstag versichert. Damals fand er das toll. Heute wäre es ihm lieber, er müsste über jedes Sesamkorn und jeden Puderzuckerkrümel Rechenschaft ablegen.

„Du könntest dich ja zur Abwechslung mal beherrschen“, sagt er sich, beherrscht sich und lässt das Reststück Schwarzwälder Kirsch stehen. Die drei Kirschplunder, die er stattdessen nimmt, haben bestimmt weniger Kalorien. Hoffentlich.

„Du musst dir ein Ablenkungsmanöver ausdenken“ sagt er sich mit mörderischer Ruhe. Er besorgt sich morgens als erstes ein Heringsbrötchen mit Zwiebeln. Das legt er im Wagen auf die Ablage vor sich hin, so dass er es den ganzen Tag buchstäblich vor der Nase hat. Die ersten zwei Tage hilft es. Am dritten Tag ist er so hungrig, dass er das Heringsbrötchen nach einer Viertelstunde Fahrt aufisst und zum Nachtisch zwei Stück Schwarzwälder Kirsch hinterherschiebt.

Keine Frage, er ist dem Job nicht gewachsen. Seine Vorstellungen vom Essen werden zwanghaft. Ununterbrochen kreisen seine Gedanken um die Kuchenbleche hinter ihm. Der Straße widmet er nur noch mäßige Aufmerksamkeit. Rotleuchtende Ampeln erinnern ihn nur an Himbeertorte. Das gelbe Ortsschild an Puddingplunder. Ist Split auf die Straße gestreut, denkt er sofort an Mohnkuchen. An Käsekuchen zu denken, ist immer Gelegenheit, denn seit April fährt er in Sandalen.

- - - - Hoppla! Was war das? In Gedanken noch bei der dreistöckigen Quarktorte hinten im Wagen, findet er sich im Straßengraben wieder. Ein entgegenkommmender LKW hat ihn mit seinem Rückspiegel gestreift. In seinem eigenen Rückspiegel sieht Martin eben noch den davonrollenden LKW. Ein aus dem Fenster ragender muskulöser und behaarter Arm zeigt ihm den Stinkfinger.

Die Quarktorte hat sich auf seine Schultern und seinen Pullover verteilt. Als er mühsam den Kopf dreht, knackt es im Nacken, und aus seinen Haaren fallen Himbeeren. Er richtet sich auf und betastet seine Nase. Ist das Blut? Nein, nur ein mit Marmelade gefüllter Kräppel. Ihm ist nichts passiert.

Nur die Hose ist geplatzt. Aber die passte ja ohnehin nicht mehr.

Blubbern als Kunst!

brille

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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