»Felix? Kommst du?«
»Sofort.« Er blickte in den Spiegel über dem Waschbecken. Rückte die Krawatte zurecht. Suchte in den Jackentaschen nach einem Kamm. Blass leuchtete sein Spiegelbild vor dem weißen Hintergrund des Waschraums. An der Tür stand Walter, die Klinke in der Hand. »Geh nur schon vor«, sagte Felix, aber Walter dachte gar nicht daran, sondern kam sogar noch einmal zurück und klopfte ihn auf die Schulter. »Nervös?«
»Nein ... Ein bisschen vielleicht.«
»Das wird schon, wir sind gut«, sagte Walter, musterte sich nun auch im Spiegel, rückte eine graue Locke zurecht und nickte selbstzufrieden. Mein Gott, nun hau schon ab … Felix drehte den Hahn auf und strich sich Wasser ins Haar.
»Du fummelst an dir herum wie eine Diva!«, grinste Walter.
»Mach endlich, dass du rauskommst. Ich komme sofort nach!«
Walter zwinkerte im Spiegel. »Bitte, ich will nicht länger stören, zieh dir in Ruhe die Lippen nach oder föne die Augenbrauen. Aber beeil dich!«
Hinter ihm fiel die Tür zu.
Blöder Kerl. Das Päckchen in der Jackentasche. Felix tastete danach und ging zur Tür, um einen Blick in den Probenraum zu werfen. Durcheinander: Mäntel, Schals und Taschen waren kreuz und quer über Tische und Stühle geworfen, Wasserflaschen und Thermoskannen standen herum, wo noch jemand schnell einen belebenden Schluck genommen hatte. Die Luft war stickig. Kein Mensch zu sehen.
Ungemütlich sah es nicht aus. Nur nach intensiver Vorbereitung, Probenstress und Lampenfieber – wie immer.
Schnell das Päckchen loswerden. Felix ging hastig die Tische ab, durchwühlte die Kleidungsstücke und suchte nach Claras dunklem Wollmantel. Eine gefleckte Plüschjacke kam ihn in die Finger. Fetziges Ozelotmuster – die gehörte Bettina. Das Innenfutter roch nach Moschus. Ein wilder Duft. Wenn er für Bettina ein Päckchen hätte packen dürfen, dann mit einer Flasche dieses wilden Parfüms. Er hatte keine Ahnung, wie es hieß, aber den Duft würde er unter Hunderten herauskennen. Er stellte sich vor, wie er durch die Parfümerieabteilungen der Kaufhäuser lief und sich Duftproben an alle zehn Finger sprühen ließ, bis er das richtige gefunden hatte. Für Bettina hätte er das gern getan.
Bettina würde das Fläschchen bei ihren Freundinnen herumzeigen, aufgeregt mit ihnen tuscheln und erörtern, von wem das wohl stammte. Für ihn kam es dann darauf an, den richtigen Moment abzupassen und sich richtig zu geben, locker und souverän …Er würde nach einem Auftritt im Gedränge des Probenraums, wenn alle ihre Mäntel wieder anzogen, Bettinas Hand ergreifen, an ihrem Puls schnuppern – und eine Bemerkung über diesen Duft machen: Ah, riecht das wild. Dann hätte sie Stoff zum Nachdenken!
Aber hat sich was! Er hatte nicht Bettina zu beschenken, sondern Clara. Clara war über sechzig und hatte eine strenge, gut geführte Altstimme. Er hatte ein Paket Kräuterbonbons eingepackt und eine kleine Clownspuppe für die Sofaecke – etwas Besseres war ihm nicht eingefallen.
Seine eigene Fliegerjacke lag neben Bettinas Ozelotplüsch. Eine Tasche war ausgebeult. Diese blöde Wichtelsitte! Nun hatte ihm da auch jemand was hineingestopft, während er im Waschraum war vermutlich. Felix zog das Päckchen heraus – da konnte nicht viel drin sein, es war kaum größer als ein Seifenstück.
Ein Klopfen an der Tür. Er machte einen Satz vor Schreck. »Was ist?« Kraftlos brach sich seine Stimme an der niedrigen Decke. Wie, zum Teufel, sollte er mit dieser Stimme singen?
Von draußen erwiderte ein Bass: »Du sollst machen, dass du hoch kommst! Wir sind gleich dran.«
»Sofort, ich muss noch mein Wichtelpaket unterbringen«, rief er zurück und schob sich das Seifenstückpäckchen in die Hosentasche. Neben der Tür lag Claras Wollmantel auf einer Stuhllehne, jetzt sah er ihn – er stürzte hin und stopfte Kräuterbonbons und Clownpuppe blindlings hinein.
Cora fuhr aus dem Halbschlaf hoch, als jemand auf der Straße einen verfrühten Kracher zündete. Gerade vor ihrem Schlafzimmerbalkon leuchtete eine Straßenlampe. Der frische Schnee auf den Dächern verstärkte ihren weißlichen Schein. Im Zimmer war es beinahe taghell.
Wenn Weihnachten endlich vorbei wäre! Cora warf sich auf die andere Seite und zog eine Ecke des Kopfkissens über das freiliegende Ohr. Ein weiterer Knallfrosch krachte, und in Gedanken fügte sie hinzu: »... und Silvester gleich mit!«
Es war gerade erst zweiter Advent, und Cora konnte bereits kein Tannengrün mehr sehen. Zimtsterne und Pfeffernüsse waren ihr seit Oktober verleidet, von Marzipan wurde ihr übel und bei jedem Gang durch die Innenstadt drehte ihr der Glühweinduft den Magen um. Beim Einkaufen dudelten ihr »Jingle Bells« und »Rudolph Raindeer« in die Ohren, bis sie der Drang überfiel, mit einer Axt zwischen die flittergeschmückten Regale zu fahren. Und selbst wenn sie zu Hause blieb und nur einen Blick aus dem Fenster warf, funkelten ihr aus allen Häusern Lichterketten und bunt blinkende Bäumchen entgegen.
Silvesterkracher am zweiten Advent waren dagegen erfrischend. Aber musste das mitten in der Nacht sein? Wie spät war es jetzt schon wieder? Cora tastete nach ihrem Wecker, fand ihn nicht und ließ die Hand schlaff herabsinken. Die Augen fielen ihr zu.
Peng! Kawumm! Mit einem Ruck fuhr sie empor und warf die Bettdecke weg. Vor der Balkontür wirbelte Schnee. Und – da hing ein Mensch. Coras Magen machte einen Satz, die Augen traten ihr fast aus dem Kopf: Über ihrem Balkongeländer hob sich deutlich der Kopf eines Mannes ab. Er hatte eine spitze Mütze auf, seine Hände in dicken Handschuhen lagen links und rechts des Kopfes auf der Brüstung.
Dem brate ich eins über! Cora sprang aus dem Bett und riss ihr Buch vom Nachttisch – eine gebundene Ausgabe von »Krieg und Frieden«. Sie stürzte durch die Balkontür. Oh nein! Über das Geländer schaute eine lebensgroße Weihnachtsmannpuppe, mit einer Strickleiter angebunden. Sein Gesicht grinste dümmlich zu ihr empor. Zwischen den gesträubten Brauen und dem Rauschebart leuchtete die rote Knollennase.
Wütend versetzte Cora ihm einen Schmiss gegen die Stirn. Natürlich – alles Vollplastik mit drei Weichmachern!
»Mistweihnachtsmann!«, schimpfte sie. Auch am Haus gegenüber baumelte ein ähnlicher Dummie vor dem Dachfenster. Und an dem Mietshaus daneben setzten zwei weitere zum Sprung über die Balkongitter an.
Cora schlurfte in ihr Schlafzimmer zurück und stolperte über einen Pantoffel. Müde kroch sie wieder ins Bett.
Wer hatte ihr dieses Ding an den Balkon gehängt? Wahrscheinlich ihr Nachbar Ewald. Der Drecksack! Coras Haus war das einzige undekorierte in der ganzen Straße. Das war Ewald ein Dorn im Auge. Er selbst hatte nicht gespart und schon Anfang November ein Arrangement vor sein Haus gebaut, das – wenn es leuchtete – einen sechsspännigen Rentierschlitten mit Weihnachtsmann darstellte. Tagsüber, wenn es nicht leuchtete, glich es einem postmodernen Kunstwerk aus spinnwebartig verknäulten Drähten.
»Geschmacksverirrung!«, schnaubte Cora und rieb ihre eiskalten Füße. Ein heißer Tee täte jetzt gut, doch sie hatte keine Lust, noch einmal aufzustehen. Langsam duselte sie ein.
Aufgehängte Weihnachtsmänner. Mit einem Ruck saß Cora aufrecht und hellwach im Bett. Irgendetwas stimmte nicht. Sie musste noch einmal nachschauen.
Wieder schlich sie zur Balkontür. Die Gestalt an ihrem Balkon hing still, auf der roten Mütze sammelten sich weiße Flocken. Doch an dem Mietshaus gegenüber, wo eben noch zwei Weihnachtsmänner gehangen hatten – da seilte sich ein dritter hoch! Er bewegte sich! Fassungslos beobachtete Cora, wie eine große rote Gestalt über das Balkongitter stieg und an der Tür rüttelte. Sie öffnete sich ohne weiteres.
Kam der fensterln? Aber da wohnte doch nur eine alte Dame mit weißen Löckchen. Jetzt kam er wieder heraus – mit einem vollen Sack. Klar, der stieg als Weihnachtsmann verkleidet in fremde Häuser ein und bediente sich!
Die Polizei anrufen? Ach was. Recht geschah es den Leuten. Wieso hängten sie sich auch alle diese roten Riesenpuppen vor die Häuser. Das war ja eine Einladung an Diebe! Cora überprüfte ihre eigene Balkontür – ja, gut verriegelt – und kehrte zurück ins Bett.
Vielleicht war ihr Nachbar Ewald mit den tausend Lämpchen das nächste Opfer, und wenn sie richtig Glück hatte, dann machte der Dieb die Illumination kaputt. Cora glitt in einen Traum, in dem Ewald als schwarz gekleideter Illuminat die Nachbarschaft unsicher machte.
Etwas bewegte sich dicht neben ihr; halb im Schlaf hörte sie Scharren und Rascheln. Ein eisiger Hauch fuhr durch die halboffene Tür. Flocken wehten herein. »Schöne Grüße vom Weihnachtsmann«, dachte Cora. Zu müde, um noch einmal richtig zu erschrecken, linste sie unter der Bettdecke hervor. Da – jetzt stand er bei ihr im Schlafzimmer. Der Weihnachtsmann! Rotleuchtend und riesig ragte er vor ihr auf. Eine Hand in rotem Fäustling hielt ihren Plüschpantoffel empor. Von der anderen Hand hing der Sack.
Wie war der hereingekommen? Helle Wut packte Cora. Ihre Hand tastete unter der Decke heraus. »Krieg und Frieden«. Sie bekam den Wälzer zu fassen und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen den Besucher. Und traf ihn mitten ins Gesicht. »Umpf!«, machte der Weihnachtsmann und griff sich an die Nase. Der Pantoffel fiel zu Boden und ein Hagelschauer von Nüssen prasselte herunter. Mandarinen kullerten in alle Richtungen. Die rote Gestalt wankte durch die Balkontür hinaus, den Sack hinter sich herschleifend, und hangelte unbeholfen über die Brüstung. Mit einem Plumps fiel die ganze Bescherung unter dem Balkon in den Schnee.
»Verdammt noch mal«, sagte Cora laut, aufrecht im Bett sitzend, »der war ja echt!«
Aus dem Pantoffel ragte eine Tafel Schokolade. Die Walnüsse und Haselnüsse waren bis in die hinterste Zimmerecke gerollt. Lebkuchen lagen auf dem Parkett herum.
»Dem hab ich’s aber gründlich gegeben!«, sagte Cora begeistert.
Jetzt musste sie wieder aufstehen und die Balkontür schließen. Aber das machte ihr gar nichts aus, so zufrieden war sie mit sich. Draußen fielen dicke Flocken. Das Zimmer duftete nach Mandarinen; die nasse Spur auf dem Fußboden trocknete bereits. Cora hob ihr Buch auf und ging in die Küche. Jetzt war ihr nach Lebkuchen und Rotwein zumute. Endlich.
Alte Männer in Bademänteln
"Ich muss heim, meine Enkelin braucht mich"
"Die Ypsilanti war doch selber schuld"
"Ich muss die Beine bewegen"
"Mann, kann der Obama reden"
"Bei mir im Zimmer geht der Fernseher nicht"
"Die Regionalligen sind finanziell fast untragbar"
"Ich war doch immer 'n Bergwanderer"
Alte Frauen in Bademänteln
"Ich kann das nicht alles einnehmen"
"Ich muss heim, meine Enkelin braucht mich"
"Schauen Sie, ich zeig Ihnen meine Narbe,
wenn Sie sich nicht ekeln"
Ich muss bei Google einen völlig neben der Sache liegenden Suchbegriff eingegeben haben. Denn ich wurde nicht auf die normale Wiki-Seite geschickt, sondern auf eine bayrische Wiki-Seite. Diese.
Da steht zum Beispiel unter Mozarts Porträt: "Da Mozart Wolfgang Amadeus af an Büidl vo da Kraft Barbara, so wia sie in Joar 1819 gmoant hat, dass er ausschaugt."
Ins Hochdeutsch übersetzt würde das etwa lauten: "Wolfgang Mozart, gemalt von Barbara Kraft 1819 aus der Erinnerung" oder "aus der Phantasie". Jedenfalls nicht "wie sie damals dachte, dass er ausgesehen haben müssen täte".
Mich hat der bayrische Mozart fasziniert, ich las mir die ganze Seite durch, so gut ich das halt verstehen zu können meinen tat, und war begeistert von der schlichten Eingängigkeit aller auf der Seite versammelten Info.
Heute mittag habe ich das meiner älteren Tochter erzählt, die wie immer wochenends aus ihrem Studentenkabuff in Mainz gekrochen war. Und die gab mir zur Antwort, dass sie einmal einen äußerst komplizierten Sachverhalt bei Wiki nachlesen wollte und nicht begriff. Durch Zufall fand sie exakt den gleichen Sachverhalt, auch bei Wiki, in irgendeinem obskuren Dialekt erklärt und hatte nach dem ersten Nachlesen alles zwanglos kapiert.
Irgendwas muss dran sein an dem berühmten Mausprinzip. Ich eröffne nunmehr in meinem Blog eine neue Themenreihe mit dem Titel "Vitrine für gewagte Thesen" (zur Erinnerung an den verstorbenen Apollopark) und starte mit der Behauptung, dass eine mit strunzdummer Attitüde vorgetragene Erklärung manchmal bessere Aufnahmechancen hat als eine hochwissenschaftlich klingende. Wohlgemerkt, wir gehen von gleichen Inhalten aus.
Machen wir gleich die Probe aufs Exempel:
Die Industrialisierung und die daraus resultierende, stetig größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich fordern sowohl räumliche als auch strukturelle Maßnahmen. Das Regionalmarketing bietet innerhalb dieser Tatsache innovativen Handlungsspielraum. Planungs- und Entscheidungsprozesse sind bedeutendster Teil der Zielvorstellungen eines intakten Regionalmarketings. Das dabei entstehende Zusammenspiel zwischen Regionalplanung und Regionalpolitik verfolgt das Ziel, Regionen auf einen höheren Standard, bezüglich ihres Arbeits-, Bildungs-, Wohn-, und Freizeitwertes, zu entwickeln.
Zitat aus einer Examenshausarbeit zum Thema Regionalmarketing.
Es wird als mehr gedo unn manche hann allweil denach mehr unn die anndern weniger. Darum muss was do wern. Am besde wär e besser Regionalmarketing. Da dunn mer zusamme überleche unn dann was dunn, unn am End gehts allen besser, bej de Awweit unn denach vorm Fernseh, odder wass mer auch immer dunn, wenn mer mit de Awweit feddich sinn, unn mer hamm en höhern Standadd.
Der gleiche Inhalt in Hessisch.
Ich weiß nicht, ob der zweite Absatz verständlicher ist; auf alle Fälle ist er sympathischer.
Und damit eröffne ich die Vitrine für gewagte Thesen. Wäre schön, wenn auch andere Vorschläge dazu kämen.
ps. These Nummer zwei:
Die wichtigste Eigenschaft, sich im Leben zurechtzufinden, ist Unverschämtheit. Die richtige Art davon.
Beim Durchblättern des Jokers-Katalogs stieß ich auf einen Krimi, dessen Titel ich wieder vergessen habe. Es ging darin um einen Wissenschaftler, der ein schlimmes Drama durchlebt: Seine Tochter wird ermordet. Der Täter wird nie gefasst. "Durch Zufall" gelangt der Wissenschaftler in den Besitz von DNA-Material des Mörders (Zufall ist in diesem Fall vermutlich ein Euphemismus dafür, dass er die Polizei beklaut). Und was tut der Wissenschaftler? Ganz klar: Er klont den Mörder. Dann muss er nur noch ein paar Jahre abwarten, um zu wissen, wie der Gesuchte aussieht.
Ich suche ja keinen Mörder, aber es wäre sicher interessant herauszufinden, wie der eine oder andere längst verstorbene Prominente ausgesehen haben mag. Von Goethe und Beethoven weiß man es ja so halbwegs, aber was ist zum Beispiel mit Mozart? In dem bekannten Amadeus-Film äußert er beim Aufprobieren von Perücken, er hätte am liebsten drei Köpfe, weil die Wahl so schwer sei. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass Mozart tatsächlich drei Köpfe hatte, so verschieden wie die überlieferten Porträts aussehen. (Im ebenfalls längst entschlafenen Apollopark gab es eine "Vitrine für gewagte Thesen", die mir besonders gefiel. Da stand zum Beispiel drin, dass alle Busfahrer einen Schnauzbart haben und der Tod montags einen freien Tag hat. Ich habe die Theorie vom dreiköpfigen Mozart beigesteuert.)
Dass es von Mozart kein gesichertes DNA-Material gibt, könnte das kleinste Problem sein. (Ich habe mal ein Buch gelesen, in dem Wissenschaftler anhand von Reliquien Heilige klonten. Darunter war auch einer, der auf dem Laborhof umherwankte und Aramäisch sprach. Der Richtige entlarvt sich selbst.)
Aber es geht ja auch nicht nur ums Aussehen, nicht wahr, sondern vor allem um das Genie. Gelänge tatsächlich ein Klon von Mozart, kämen wir endlich in den Genuss all der ungeschriebenen Werke, die Mozart nebenher komponiert, aber aus Zeitmangel oder Unlust nicht notiert hat. Vielleicht fallen ihm sogar noch ein paar zusätzliche ein. Das war aber eine Idee meiner Tochter. Ich wendete dagegen ein, dass ein in unserer Zeit lebendes Mozart-Klon bestimmt nicht in frühester Jugend zu komponieren anfinge. Wolferl der Zweite würde Gameboy spielen, die Teenagerjahre zwischen Disco, Sonnenbank und Fitness-Studio aufteilen und keine Note schreiben.
"Mozart wurde von seinem Vater zum Musizieren gezwungen!", resümierte ich. "Das geht heute gar nicht mehr!" (Das Gleiche gilt übrigens auch für Paganini, von dem es so viele unterschiedliche Porträts gibt, dass er mindestens acht Köpfe gehabt haben muss. Und der ist noch NACH seinem Tod so oft umgezogen**, dass es völlig aussichtslos wäre, an gesicherte DNA kommen zu wollen!)
"Wir müssten für ein Mozart-Klon ähnliche Bedingungen schaffen, wie sie damals herrschten!", meinte meine Tochter. "Wie in der Truman-Show!" Das heißt, wir schaffen unserem Wolferl dem Zweiten eine virtuelle Realität, in der er Kniehosen und gepuderte Haarbeutel trägt und schon in zartester Kindheit über sämtliche Fürstenhöfe zum Vorspielen geschleift wird. Der Wissenschaft zuliebe schaffen wir noch eine Vergleichsidentität, die völlig normal aufwächst, nämlich mit Gameboy, Disco, LAN-Partys und "Deutschland sucht den Superstar". Wird einer von ihnen Genie zeigen, und wenn ja, welches und warum keiner von beiden? Und nebenher, was ist mit der von namhaften Mozartforschern ins Reich der Fabel verwiesenen Behauptung, Mozart habe Beethoven vorspielen gehört und den Kleinen auf die Stirn geküsst? Könnte das vielleicht doch stimmen? Ein Beethoven-Klon zum Nachprüfen wäre ja schnell gemacht.
Fragen über Fragen. Wer schreibt den Mozart-Wissenschaftskrimi?
____________________
** Nachträgelchen: Dem sehr gläubigen Paganini wurde nach seinem Tod die Beisetzung auf einem geweihten Friedhof verweigert, weil er mit dem Teufel im Bund gewesen sei. Sein Sarg wurde jahrelang immer wieder umgesetzt, bis er endlich ordentlich bestattet werden konnte. Wie ein moderner Biograph schreibt, musste sein Sohn erst alles Geld, das sein Vater mithilfe des Teufels verdient hatte, der Kirche auszahlen - ein immenser Betrag. Das war nicht irgendwann im Jahre Krötenschleim und Besensalbe, sondern in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts.
eine aura an der zimmerdecke, prismatisch geteilt
eine kinderstimme hinter dem paravent
vorbeischlurrende gummifüße
ein weiches bett im genick
zehenwackeln, bis acht zählen
nach dem bauch suchen und ihn finden
ansetzen zum räuspern
den atem rinnen lassen
wundern
Ich habe einige Bücher, die ich immer wieder lese, und ein paar, die ich vielleicht bei Gelegenheit noch mal lese. Eines davon habe ich heute herausgezogen. Keine Ahnung, wann ich es zum letzten Mal in der Hand hatte. Es ist eines von Henning Mankell. Eines seiner - nach meiner Meinung - weniger guten.
Als ich es aufschlug, fiel eine Karte heraus mit der Aufschrift "zur Genesung".
Es war eine dreiteilige Klappkarte, und sie war mir, wie ich mich beim Lesen erinnerte, in der hiesigen Klinik von einer Pfarrerin übergeben worden, die mich routinemäßig besuchte.
Da ich die Gewohnheit habe, tagesaktuelle Zettel und Karten in Bücher zu legen - es macht immer Spaß, wenn man so ein Buch Jahre später herauszieht und auf so einen Zettel stößt -, kann ich wohl davon ausgehen, dass dieses Buch meine mitgenommene Klinikslektüre war, oder ich habe es unmittelbar nach dem Klinikaufenthalt gekauft.
Wenn ich zurückrechne, glaube ich, dass das im Jahr 2002 war, und zwar im Januar. Das war mein letzter Klinikaufenthalt.
Und nun, sechs Jahre später, steht mir ein neuer bevor. Die seit langem angekündigte Gallen-OP muss jetzt sein, ich habe nächsten Mittwoch Termin.
Aber ist es nicht äußerst merkwürdig, dass ich gerade heute gerade dieses Buch aus dem Regal zog? Es würde mich nicht wundern, wenn es seit 2002 dort geschlummert hat. Und gewartet - auf meine nächste OP.
Vielleicht ist irgendeine unterbewusste Hirnverschaltung dafür verantwortlich, vielleicht ist es auch nur einfach ein ermutigendes Zeichen aus dem Off. Ich nehme es gern.
Ein Hauch vom Wunderbaren im Alltag.
Ich darf keine Angst haben. Die Angst tötet den Geist. (Paul Atreides in "Dune")
Ich bin diszipliniert und organisiert. (Leonard in "Memento")
Ich bin ein guter Polizist. (Wallander bei Mankell)
Weitermachen, weitermachen, nicht nach einem Sinn suchen. (Edith bei Patricia Highsmith)
Das sind Mantren. Also nicht im magischen Sinn, sondern Sätze von der Art, die man sich zur Lebensbewältigung vorsagt, am besten mehrmals am Tag.
Irgendwie sind es aber zugleich auch Dummsätze. Sonst würden sie nicht bei uns so gut als interne Familienwitze funktionieren. (Bis auf den letztgenannten, den habe ich als tragisches Beispiel hinzugesetzt.) Nebenbei bemerkt, "Dune" ist besonders reich an Dummsätzen, zum Beispiel finden bei uns auch die folgenden Anwendung:
"Allein durch meinen Willen befreit sich mein Geist."
"Sie beenden Ihr Leben im Schmerzverstärker."
"Ich habe das nicht gesagt, und ich war auch nicht hier."
"Mmmmmmmmm, Shai-hulud."
Aber am schönsten sind die Dummsätze, die man selbst geprägt hat, und von denen sind diejenigen am allerschönsten, die irgendwie wieder geistreich sind. Ein hinreißendes Beispiel: In Hünfeld gibt es einen Matratzenladen, der zur Zeit mit dem Slogan "Zwei Matratzen kaufen, eine bezahlen" wirbt. Groß und breit neben der Tür aufplakatiert. Im Vorbeifahren sagte meine Tochter in der ihr eigenen grüblerischen Art: "Kann man nicht nur eine kaufen und gar keine bezahlen?"
Vor zwei Tagen gelang mir, jawohl MIR!, eine Reihung von Dummsätzen, die unbedingt veröffentlich werden muss. Die schlägt schlechthin alles, ich sollte einen Physikpreis dafür bekommen.
Der Bordcomputer meines Autos zeigte beharrlich an: "Kühlmittel nachfüllen". Ich düste zur Tankstelle, tankte und fragte, ob Ewald vielleicht zu sprechen sei. Da kam er auch schon und besah sich die Meldung auf dem Display. Schlurfte in die Werkstatt zurück und kam alsbald mit einem Messgerät wieder.
Ich musste die Motorhaube öffnen. Darunter ist alles schwarz, nur vier Stellen sind gelb. Ich klärte Ewald auf: "Im Autohaus haben sie mir gesagt, die Stellen, an die ich drangehen darf, sind gelb, von allem anderen soll ich die Finger lassen!"
Gelb waren der Einfüllstutzen des Waschwassertanks, der Ölwanne, die Schutzkappen auf der Batterie und sonst noch was, ich weiß nicht mehr was. Ewald jedenfalls schraubte den Deckel vom Waschwassertank, hielt sein Messgerät hinein und verkündete: "Das ist auf 30 Grad minus ausgelegt, so kalt wird es schon nicht werden!" Mit einem Fingerschnippen hatte er eine blaue Gießkanne zur Hand, auf der in weißer Schrift "Wasser" stand, und füllte ein paar Schlückchen in den Waschwassertank. "So, und gut ist!"
Ich: "Wie jetzt?"
Ewald: "Machen Sie mal die Zündung an!"
Ich mache die Zündung an und das Display zeigt alle mögliche krude Info, schweigt aber vom Kühlmittel.
Ewald: "Sehnse, und gut ist!"
Ich: "Wie jetzt? Ich sollte doch Kühlmittel nachfüllen?"
Ewald: "Ja, und jetzt haben wir nachgefüllt!"
Ich: "Aber das ist doch bloß Wasser!"
Ewald: "Ja, aber wir kriegen doch keine dreißig Grad minus!"
Ich: "Was hat das denn damit zu tun??"
Ewald (verzweifelt)
Ich (schlage mir verstehend vors Vorderhaupt)
Ewald (verschwindet mit seiner Gießkanne)
Ich habe die Geschichte meiner Familie erzählt, als Beleg, dass ich nur versehentlich nicht blond bin. Erst Stunden später fiel mir folgendes auf:
Ich (verstehe immer noch nicht, wieso der Bordcomputer "Kühlmittel nachfüllen" anzeigt, wenn es in Wirklichkeit um Frostschutzmittel geht)
Ewald (hat seinen Feierabend verdient)
Ich (trinke einen auf Ewald)
Man hört ja dauernd, die Autoindustrie gehe auf dem Zahnfleisch, oder (passendere Metapher) rolle auf den Felgen. Vielleich hat das auch noch andere Gründe als bloß diese rätselhafte Finanzkrise, von der ich mich langsam frage, ob man uns die nicht bloß vorgaukelt, um irgendwas weit schwerer Wiegendes zu verschleiern.