"sommeil"

Er steht immer am selben Platz an einer ziemlich dunklen Stelle unter der Brücke. Aber das Glas Wein, das er in der Hand hält, leuchtet hell wie von einem inneren Licht. Es ist ein heller Roséwein. Die Flasche steht neben dem Mann auf einem Tisch, aber vom Etikett ist nur ein kleiner Teil zu sehen.
Immer, wenn Cora vorbeikommt, hält er ihr auffordernd das Glas entgegen.
In ihrer Jugend liebte sie alle möglichen Männer: Winnetou, den Gotenkönig Teja, eine Zeitlang sogar Prinz Hamlet und natürlich viele, viele Schnulzensänger. Das ist Jahre her, aber ein Rest Schulmädchenschwärmerei steckt noch in ihr.
Er, der Mann mit dem Weinglas, hat einen braunen Pullover an mit hochgekrempelten Ärmeln und wahrscheinlich eine Jeans, aber das ist nicht richtig zu sehen, weil er hinter diesem Tisch steht. Er hat dunkle Haare und einen Dreitagebart. Auf dem Kopf trägt er einen Schlapphut, der ins Genick geschoben ist. Das sieht irgendwie französisch aus, meint Cora, und deshalb muss auch der Wein ein französischer sein und am besten auch der Mann. Die Hand, die das Weinglas hält, ist nicht die Hand eines Bücherwurms, aber auch nicht die eines Bauern. Eine ganz normale Hand; aber der Griff der Fingerspitzen um den Stiel des Weinglases ist achtsam, beinahe zärtlich. Sehr französisch.
Das redet Cora sich jedenfalls ein und belächelt sich selbst dabei. Sie lächelt jedes Mal, wenn sie in der Unterführung vor der roten Ampel halten muss und die Plakate an den Wänden betrachtet. Die junge Frau mit den Käselaiben und der holländischen Haube ist nicht weiter beachtenswert, auch nicht die Kinder mit den Luftballons. Nur der Mann mit dem Weinglas zieht immer wieder Coras Blick auf sich. Die Bilder in der Unterführung werden nicht ausgewechselt wie die üblichen Werbeplakate. Es sind Bilder, die Szenen aus der Stadt darstellen sollen; vermutlich im Auftrag der Stadtverwaltung angebracht. Der Franzose mit dem Glas Rosé hängt seit mindestens drei Monaten dort.
Cora nennt ihn ihren „Sommelier“. Das Wort hat sie in einem Reiseführer für Frankreich gelesen, und es gefällt ihr. Es klingt nicht nur nach Wein, sondern auch nach Schlaf; sommeil heißt Schlaf, das weiß sie noch; und es klingt auch nach Sommer: Es klingt nach Grillenzirpen und dem Rascheln von Bäumen im Abendwind; es klingt nach leisen Gesprächen und dem Klang zarter Gläser, während eine tiefe Stimme französische Worte in ihr Ohr raunt. Das hat etwas Einschläferndes. In ihrer Unterführung verpasst Cora manchmal das grüne Licht an der Ampel und wird von einem sehr deutschen Hupkonzert aus dem Halbschlummer gerissen.

Goncourt

zitiert Josephine in "Juliette Faustin":
"Deine Haut ist weich wie das Treppengeländer im Leihhaus."
Ist das ein Kompliment? Juliette ist jedenfalls beleidigt.

ps. Morgen ist Lesung unserer Rhöner Litwerkstatt!

... ähm, edit: HEUTE ist Lesung unserer Rhöner Litwerkstatt.
Mit Zwiebelkuchen und Gitarrenmusik. Und Regen satt. *pfffft*

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es ist eine halbe stunde zeit, dreißig minuten herumzubringen, bis der zug abfährt und draußen regnet es in strömen.

die rolltreppe trägt sie abwärts. der büchertisch steht links, sie lässt ihn stehen, zu hause liegen noch genug ungelesene bücher. sie wendet sich nach rechts und sagt beinahe "guten tag" zu einem lebensgroßen pappmännchen, das sich auf einen baseball stützt und lachend alle weißen zähne zeigt. das ist nicht die welt, nein, nicht die welt. sie selbst kann nur noch mit wenigen zähnen lachen, sie lacht ein viertellachen, zeigt allenfalls eine glänzende fassade aus porzellankronen. sie war lange zeit nicht mit dabei. das leben ist aus ihr gebröckelt. seit kurzem erst kehrt sie schüchtern zurück.

sie wird nichts kaufen. sie hat ohnehin nicht viel geld einstecken, das hat sie nie, wenn sie in die stadt geht, sie ist vernünftig. keine bücher, die regale sind voll. keine kleidung, der schrank ist voll. keine süßigkeiten, sie ist ohnehin zu dick. die schlanke junge frau in knielangen jeanshosen, die stiefel anprobiert, der blankgeputzte kleine hund, die lachenden teenager, die einander bunte klammern ins haar stecken: das ist nicht die welt, sie selbst ist nicht so, sie wird nicht so, nie. auch wenn es ihr einfallen sollte, das bankkonto abzuräumen, das gut gefüllte, und alles zu kaufen, was sie reizt.

nicht die welt. auch die anderen sind nicht so, das bildet sie sich ein, das ist nur schau. darauf fällt sie nicht mehr herein.

jetzt steht sie wieder im erdgeschoss vor der abteilung mit den sonderaktionen, beinahe läuft sie gegen die brötchentheke und erwidert das kichern der verkäuferinnen mit einem zucken der mundwinkel. es gibt halbedelsteinketten in allen variationen, bis zu 50 % reduziert. das zeichen 50 % schwebt über allen tischen und höhlt jeden widerstand aus, die null ist wie ein abgrund, ein riesenloch, das kann sie ohnehin nicht füllen, dazu reichen all die blinkenden bunten ketten auf den tischen nicht aus, die polierte jade, die geäderten onyxe, unschuldig schimmernd gespreizt wie gefallene tropfen; die hämatite, verstohlen und hämisch; die muschelkernketten, die plastik vorzutäuschen suchen, die giftig-verlogenen tigeraugen. sie greift nach einer kette mit geschnitzten fischen, lapis und karneol liegen eiskalt in ihren fingern. an der kette kleben drei preisschilder, sie ist von 129 euro über 89 und 69 euro auf 29,50 euro heruntergesetzt. sie legt die kette um ihren hals. der preis ist ihr egal, sie könnte den zehnfachen bezahlen. warum widerstand? die fische zucken auf ihrer haut, die sich kräuselt in abscheu. sie ist gefangen. ja. jetzt. - die welt.

die rolltreppe trägt sie ins tageslicht, der regen hat aufgehört. autos, bäume, menschen strahlen blankgewaschen. sie strebt dem bahnhof zu, die augen niedergeschlagen. ihre tränen haben keine kraft.

Wo der Hase noch gesehen ward

"Rain, Steam, And Speed" von William Turner


Quelle: Wikipedia

"Man sieht, wie vor dem Zug ein Feldhase flüchtet, rechts pflügt ein Bauer, und links unten befahren Leute auf einem Boot den Fluss" heißt es in einer Bildbeschreibung (Stefan Paulick). Das Boot kann man erkennen, aber schon den Bauern findet man nur mit viel Phantasie. Und vollends den Hasen kann ich nicht finden, obwohl ich auf einer schönen großen Reproduktion in einem Bildband mit der stärksten Brille gesucht habe. Ist er davongehüpft? Ein Zeitgenosse Turners soll dazu bemerkt haben, dass der Bildaspekt "speed" sich auf den Hasen bezöge, nicht etwa auf die Eisenbahn, so großspurig sie auch daherdampft. Vielleicht ist er gar nicht mehr da, der Hase. Denn gestern hörte ich, dass er, inzwischen um ein Vielfaches vermehrt, auf dem Mailänder Flughafen aufgetaucht sei. Wettlauf mit der Great Western Railway ist passé, total out, von vorgestern; der zeitgemäße Hase macht Wettlauf mit Flugzeugen auf der Startbahn. Und offenbar fürchten sich die Flugzeuge vor der Konkurrenz, denn am letzten Sonntag wurde die ganze Hasenpopulation von insgesamt 61 Löffelmännern zusammengetrieben und angeblich in einen "geschützten Park" ausgewildert. Die ganze Hasenpopulation? Nein! Mit zwei Brillen übereinander finden wir den Vorhüpfer dann doch noch bei Turner:



Allen Hasengöttern sei's gedankt. Wo er wohl noch hinhüpfen mag?

Ein Textfetzen

von Edmond de Goncourt:

Wenn heutzutage ein Historiker sich anschickt, ein Buch über eine Frau aus vergangener Zeit zu schreiben, so wendet er sich an all diejenigen, welche mit dem Leben dieser Frau vertraut waren, an die Besitzer jeden Fetzchens Papier, das über die Geschichte der Verstorbenen einige wenige Auskünfte gibt.
Warum bedient sich heute ein Romanschriftsteller (der im Grunde nichts anderes ist als ein Historiker unter den Leuten, die selbst keine Geschichte haben), warum bedient er sich also nicht mehr dieser Methode und greift nicht mehr auf unvollständige Brief- und Zeitungsfragmente zurück, sondern wendet sich lebenden Erinnerungen zu, die vielleicht nur darauf warten, zu ihm zu gelangen? (...)
Ich möchte einen Roman machen, der einfach nur die psychologische und physiologische Studie eines jungen Mädchens sein soll (...), einen Roman, der auf menschlichen Dokumenten beruht. (...) Nun, in dem Moment da ich mich an dieser Arbeit mache, finde ich dass es den Büchern, die von Männern über Frauen geschrieben werden, an einer Sache mangelt ... an der Mitarbeit einer Frau, und mich würde es sehr nach dieser Mitarbeit verlangen, und zwar nicht nur von Seiten einer einzigen, sondern einer großen Anzahl von Frauen.
(...)
... die ganze unbekannte Fraulichkeit im Innersten einer Frau, von welcher die Ehemänner und selbst die Liebhaber ihr ganzes Leben lang nichts wissen, das ist es, wonach ich verlange.
Und ich wende mich an meine Leserinnen aus allen Ländern mit der dringenden Bitte, in jenen leeren Stunden des Müßiggangs, in denen die Vergangenheit wieder erwacht, in diesen Stunden der Traurigkeit oder des Glücks einige der bei der Rückerinnerung auftauchenden Gedanken auf ein Stück Papier niederzuschreiben und es anonym an die Adresse meines Herausgebers zu schicken.

Anteuil, 15. Oktober 1881, Edmond de Goncourt.
(aus dem Vorwort zu "Juliette Faustin")


Da ich mir nicht um Mitternacht einen Wolf tippen mag, habe ich einiges herausgekürzt. Die seltsame Mischung aus Demut und Hochmut, die Goncourt an den Tag legt, leidet ein wenig. Ich gönne ihm den Hochmut von Herzen und wünsche einen Hauch seiner Demut all denjenigen, von denen ich schon Frauenromane gelesen habe, die mir die Schuhe auszogen. Ich nenne jetzt keine Namen, das ist mir um diese Zeit zu blöd. Als positive Gegenbeispiele nenne ich Martin Andersen Nexö (ein Denkmal seiner Ditte) und Maupassant.
Am Rande würde mich aber mal sehr interessieren, ob Edmond de Goncourts Herausgeber unter der Flut anonymer Zettel noch Luft bekam. Ich werde das mal ausprobieren, wenn mein Buch irgendwann rauskommt, der Herausgeber ist hart im Nehmen.
En passant,
schmollfisch, Goncourt lesend

Wegger

Ich habe irgendwo, wahrscheinlich im Internet, kürzlich die Formulierung gelesen "ein lang genuges Stück Schnur".
Das gab die Inspiration für diesen Titel:


Cora und ihr wegger Hase

Auf dem Bürgersteig gegenüber stand eine Pendeluhr, daneben ein dreibeiniger Hocker. Cora bemerkte das, als sie morgens beim Kaffeekochen aus dem Fenster schaute. Eine Viertelstunde später war ein Polstersessel dazugekommen, von einer Farbe wie kalter Haferbrei.
Bestimmt zog da jemand aus.
Der Tag versprach sonnig zu werden – ein seltenes Glück im späten Oktober. Cora nahm sich nach dem Frühstück die paar Minuten Zeit, den Hasenkasten in den Vorgarten zu tragen. Ihrem schwarzen Zwerghasen Vitali gefiel der neue Platz in der Sonne. Als Cora das Haus verließ, sah sie ihn in seiner ganzen Pracht oben auf seinem Schlafhäuschen sitzen. »Pass mir gut aufs Haus auf, Vitali!«, sagte sie neckisch. Manchmal stellte sie sich mit Genuss vor, wie Vitali den Briefträger biss. Coras Briefträger war zufällig ein breitschultriger junger Mann mit Goldringen in beiden Ohren, der aufregend mit dem Briefkastentürchen zu klappern verstand, wenn er Coras Post brachte. Schade, dass er meistens am späten Vormittag kam, wenn sie selbst noch im Geschäft war ... Heute würde sie sich besonders bemühen, spätestens um halb zwölf zu Hause zu sein, nahm sich Cora vor. Sie würde sich im Vorgarten aufhalten, wenn die Post kam; Vitali war ein guter Vorwand. Sie würde ganz zufällig draußen stehen und Vitali streicheln. Die Sonne schien, die Ohrringe blitzten ...
Als Cora um viertel vor zwölf mit ihrem Kleinwagen an den Straßenrand fuhr, waren die Standuhr, der Hocker und der haferbreifarbene Polstersessel verschwunden. Ebenso auch ihr Hasenkasten mitsamt Vitali.
Vergessen war der Briefträger. Cora stürzte auf die Straße hinaus und blickte wild um sich. War Vitali ausgerissen? Aber dann stünde der Hasenkasten doch noch da. Gab es das, dass Hasen abhauten und den Stall mitnahmen?
Eben wanderte ihre Nachbarin von gegenüber – ein gebeugtes Frauchen mit weißem Pudelhaar – aus dem Haus und an den Straßenrand. Sie trug ein krummbeiniges Bobbycar.
»Die sind schon weg«, verkündete sie mit tiefer Stimme, erstaunlich tief für eine so kleine Person. Es klang wie Rabengekrächz. »Haben Sie was rauszustellen vergessen?«
»Sperrmüllabfuhr?«, hauchte Cora.
»Bis jetzt haben sie nur Holz und Metall abgeholt.« Das Bobbycar plumpste neben den Kantstein. »Wenn Sie was aus Plastik haben, stellen Sie es halt hin.«
Oh verdammt. Cora schlug sich vor die Stirn. Vitali! Der arme Kerl hatte sich sicher, als der Sperrmüllwagen mit Dröhnen und Rasseln herankam, im Schlafhäuschen verkrochen. Die Müllmänner hatten gedacht, der Hasenkasten sei leer. Und dann ...
»Sie sehen aus, als sei Ihnen was weggekommen?«, krächzte der weißhaarige Rabe. »Dann beeilen Sie sich mal, vielleicht holen Sie den Wagen noch ein. Die drücken alles platt, damit mehr reinpasst.«
Vitali platt gedrückt! Cora warf sich in ihr Auto und raste los. Erst drei Straßen weiter fiel ihr ein, dass sie nicht wusste, in welche Richtung der Sperrmüllwagen seine Tour absolvierte. Von oben nach unten in die Straße oder umgekehrt? Der Bürgersteig war hier jedenfalls frei von Sperrmüll. Um die nächste Ecke – da stand ein Teleskop aufrecht am Kantstein. Beinahe hätte sie es umgefahren.
Überholt hatte sie den Sperrmüllwagen nicht. Folglich musste er ihr hier entgegenkommen. Und das Teleskop abholen. Erheblich langsamer trudelte Cora zur nächsten Ecke. Da standen zwei kaputte Plastikwäschekörbe.
Plastik! Verdammt! Das war ja sowieso noch nicht abgeholt. Sie machte kehrt. Neben dem Teleskop stand jetzt ein Kerl im Blaumann und lud das Ding auf seine Handkarre, auf der schon eine ölverschmierte Nähmaschine und das Bobbycar der Rabendame standen. »Ich war zuerst da! Ich hab’s zuerst gesehen!«, rief er Cora entgegen, als sie ihr Fenster herunterkurbelte.
»Ich will das Mistding nicht«, schnauzte sie zurück. »Wo ist denn der Holzmüllwagen? Ist der schon hier durchgekommen?«
»Klaro. Alles schon weg. Alles Pressspan«, fügte er boshaft hinzu, als er Coras entsetztes Gesicht sah.
Vitali Pressspan. Cora kreuzte noch eine Viertelstunde hin und her durch die Straßen, jagte um die Ecken und plättete durchlöcherte Nachttöpfe und Zinkbadewannen. Dann gab sie es auf. Es war nichts Hölzernes mehr am Straßenrand, weit nicht und breit nicht.
Sie jagte zur Gemeindeverwaltung und parkte im Halteverbot direkt vor der Tür. Eben kam eine junge Frau im Trench heraus und schickte sich an abzuschließen. Und das am Freitag um zwölf, so viel zum öffentlichen Dienst! Cora fuhr auf sie nieder wie ein Adler auf die Maus. »Bitte«, stieß sie hervor, »wo wird der Sperrmüll hingebracht? Schnell!«
»Emm«, sagte die Frau. »Holz oder Plastik?«
»Holz! Holz!!«, schrie Cora.
»Emm. In den Gemeindebauhof. Da drüben hinter dem Sportplatz. Aber geben Sie sich keine Mühe, wenn Ihnen was weggekommen ist«, fügte die Trenchfrau hinzu, »das ist bestimmt alles, emm, schon durch die Presse gelaufen.«
Vitali durch die Presse gelaufen. Cora stürzte sich in ihr Auto. Links herum am Sportplatz vorbei, über eine rote Ampel und in die falsche Richtung durch eine Einbahnstraße ... egal. Der Gemeindebauhof präsentierte ihr eine große geöffnete Toreinfahrt, in der ein LKW stand. Die Ladefläche war leer.
Alles abgeladen. Und Vitali war platt.
Diese Dreckskerle, die keinen Blick darauf warfen, was ihnen überhaupt unterkam! Die alles unterschiedslos durch die Presse jagten! Cora schoss aus ihrem Kleinwagen und riss die Beifahrertür des LKW auf. Da saß ein kleiner Junge, der aussah wie kaum sechzehn, blond und sommersprossig, und kaute an einem Salamibrot.
Cora stockte. Nein, an dem durfte sie sich nicht vergreifen. »Wo ist dein Chef?«, raunzte sie.
»Hm-hm«, muffelte der Junge mit vollen Backen und zeigte mit dem Daumen nach hinten. Da war aber niemand, nicht mal eine Rückbank für Mitfahrer. Cora knallte die Tür zu und ging mit langen Schritten um den LKW herum.
Am hinteren Ende, an die Ladefläche gelehnt, stand ein Riesenkerl, ein Schrank von einem Mann, mit Glatzkopf und blau tätowierten Armen, und hielt in seinen bügelbrettgroßen Pranken einen kleinen schwarzen Hasen. Er drückte ihn zärtlich an sein Gesicht. Vitalis Nase ging auf und nieder. Er sah aus, als ginge es ihm ausgezeichnet.
»SIE!«, sprach Cora drohend.
»Ist das Ihrer? Hier bitte«, erwiderte der tätowierte Riese aufgeschreckt und drückte ihr das Tierchen in den Arm. »Sagen Sie, wo kann man denn so ein Häschen kaufen? Und was frisst es? Braucht es viel Auslauf? Gibt es das auch in Weiß?« Er fragte unablässig weiter, als Cora schon längst den Rückzug angetreten hatte.
Sie setzte Vitali auf die Rückbank in ihrem Kleinwagen und hoffte innig, dass er still hielte, solange sie fuhr. Unterwegs überholte sie den Briefträger mit seinem postgelben Fahrrad und den goldenen Ohrringen. Er winkte ihr zu und zeigte eine blitzblanke Reihe Prachtzähne. Wenn der mal nicht Vitali biss statt umgekehrt.

Im Apollopark

... gibt es jetzt auch ein Blog, das Apollog. Da schreibe ich auch hin und wieder was. Zum Beispiel hier über die brandaktuelle Frage, wie man Tolstoj liest.

Fisherman's

Teil II (mit Dank an SuMuze für den Input!)


Ich habe festgestellt, dass man ganz gut ohne Stimme auskommt. Vorläufig jedenfalls.
Zur Zeit verdiene ich mein Brot als Apothekengehilfin. Das ist eine Tätigkeit, bei der man stundenlang, sogar tagelang stumm bleiben kann. Ich habe mir eine dicke Schaumstoffmanschette um den Hals gewickelt. Wenn mich jemand etwas fragt, zucke ich die Achseln und gestikuliere zu der Manschette hin. Man hat mich ins Hinterzimmer geschickt, wo ich Salben zusammenrühre und Kapseln mit Spezialpräparaten fülle. Den ganzen Tag lang.
Wenn ich nach Feierabend heimkomme, begrüße ich als erstes die Stimme. Ich klopfe ein wenig gegen das Marmeladenglas. Manchmal gibt die Stimme dann einen zarten Gickser von sich. Sonst verhält sie sich ruhig. Nur spät abends, wenn ich den Fernseher abschalte und es plötzlich ganz still in meiner Wohnung wird, höre ich sie manchmal leise singen. Natürlich artikuliert sie keine Worte, dazu braucht man bekanntlich Lippen und Zunge. Es klingt mehr wie ein Summen. Schön eigentlich, aber ein unzureichender Ersatz für meine verlorene Fähigkeit zu sprechen!
Natürlich habe ich die Flüssigkeit schon ein paarmal ausgewechselt. Für den Fall, dass Grappa meiner Stimme nicht schmeckt, habe ich am zweiten Tag einen guten Gin eingefüllt. Erste Qualität, damit die Stimme keine Kopfschmerzen bekommt. Am dritten Tag habe ich ihr einen Friesengeist gegönnt und heute morgen einen frischen Sambuca.
Und sonst habe ich weiter nichts unternommen. Um ehrlich zu sein, ich habe mir wohl vorgestellt, dass mir einfach irgendwann eine neue Stimme nachwächst. Jeden Morgen, noch im Bett, versuche ich als erstes ein stimmhaftes Räuspern. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Es klingt wie das Rascheln von Mäusen in Seidenpapier. Gestern gelang mir beim Gähnen ein kurzes "Huach". Vielleicht ein Anfang?
Jedenfalls habe ich die Wahlprospekte, die mittags mit der Post kamen, gleich weggeschmissen. "Ihre Zweitstimme für ..." Das könnte denen so passen, ich gebe denen überhaupt keine Stimme mehr, weder die erste noch die zweite, diesen unverschämten Säcken!!


Heute mittag kam dann die entscheidende Wende.
Ich saß wie üblich im Hinterzimmer der Apotheke und tütete Medikamente ein für den Kurierdienst. Am Rande bekam ich mit, dass vorne im Verkaufsraum viel Betrieb war, meine Kolleginnen hektisierten immer aufgeregter herum. Ich hätte gern geholfen, aber ich konnte ja nicht.
Bei den Aufträgen war eine Anforderung über ein gerinnungshemmendes Mittel für Frau Kaspari, Klempererstraße. Die Frau Kaspari war früher Tierärztin. Seit sie zwei Schlaganfälle gehabt hat, arbeitet sie nicht mehr. Aber früher hat sie immer meine beiden Zwerghäschen betreut - als ich noch welche hatte. Inzwischen sind sie leider beide tot, aber sie sind zwölf und dreizehn Jahre alt geworden, ein biblisches Alter für Zwerghäschen, und das verdanke ich bestimmt der Frau Kaspari. Sie ist eine wirkliche Tierfreundin. Sie ging mit ihren vierbeinigen Patienten um, als ob es Menschen wären. Da fällt mir übrigens ein, ich weiß immer noch nicht, ob Kaninchen eigentlich eine Stimme haben. Meine beiden haben nie was gesagt. Ich habe bei Google "Kaninchen" und "Stimmbänder" eingegeben, bekam aber nur Links zu Seiten über Tierversuche mit Tieren, denen man vorher die Stimmbänder durchschnitten hat, damit sie nicht schreien können ... ich weiß, ich komme vom Hölzchen aufs Stöckchen, aber ich bin etwas aus dem Tritt heute, weil ich zum ersten, wirklich zum ersten Mal so richtig SCHLAGFERTIG war!
Aber der Reihe nach! Ich machte also das Medikament für Frau Kaspari fertig und dabei fiel mir ein, dass ich ihr bei der Gelegenheit eine Freude machen könnte. Frau Kaspari liebt über alles diese fürchterlichen Halspastillen, diese Fisherman's Friends. Ich habe das Zeug nur einmal probiert - und nie wieder. Aber Frau Kaspari hat früher, als sie noch selbst in die Apotheke kam, immer eine Menge davon gekauft. Übrigens hat sie selbst eine sehr tiefe, rauhe Stimme, wie ein Nebelhorn. Eine richtige Bootsmannstimme. Ich überlegte mir, dass ich ihr in die Tüte mit dem Medikament ein Päckchen Fisherman's dazustecken könnte. Das musste ich allerdings von vorne aus dem Regal holen. Ich stand auf und ging in den Verkaufsraum hinaus.
Wir haben vier Theken, und an allen standen Leute. Und mitten im Verkaufsraum stand ein großer Kerl mit angegrauten Schläfen, der einen dunkelblauen Pullover anhatte. Ich erkannte ihn sofort. Es war mein Gesetzeshüter vom Parkplatz.
Ich tat mein Bestes, nicht bemerkt zu werden, zog den Kopf ein und langte ganz vorsichtig in den Ständer mit den Fisherman's. Doch er hatte mich schon gesehen. "Sie!", brüllte er los. "SIE! Sind Sie eigentlich übergeschnappt? Was fällt ihnen ein, in Ihrem Weblog über mich zu schreiben? Ich werde Sie wegen übler Nachrede verklagen, Sie!"
Ich hatte die Fisherman's schon in der Hand. Da ritt mich der Teufel. Ich riss das Päckchen auf und schüttete mir den ganzen Inhalt in den Hals. Es brannte wie Feuer. Und ich dröhnte zurück: "Ach, Sie sind es! Treten Sie ruhig nach vorne an die Theke. Da kann ich Sie viel besser ignorieren!"
Einen Augenblick war ich selbst fassungslos über meine neue Stimme. Gott sei Dank fiel ihm auch keine Antwort ein. Er machte den Mund auf und zu, aber es kam nichts heraus. Ob ihm auch gleich die Stimme aus dem Hals springen würde? Mein Blick fiel auf seinen Pullover - auf das gestickte Emblem auf seiner Brust. Da stand gar nicht "Polizei". Ich hatte falsch gelesen. Es hieß "Pozilei".
"Kommen Sie morgen wieder!", röhrte ich. "Die Kondome mit Himbeergeschmack sind gerade aus! Aber ich lege Ihnen gern welche zurück!"
Dann rauschte ich hinaus. Ob er noch was gesagt hat, weiß ich nicht.
In die Tüte für die Tierärztin legte ich das leere Päckchen Fisherman's und schrieb einen Gruß dazu von meinen verstorbenen Zwerghäschen.
Am Abend schickte man mich bis auf weiteres in Urlaub. Ich weiß auch noch nicht, ob meine Zukunft im Hinterzimmer einer Apotheke liegt, vielleicht sollte ich lieber zur Bühne. Zur Zeit übe ich "I Heard It In The Grapevine" in meiner Küche. Die Erststimme hüpft dazu in ihrem Glas auf und ab. Ich habe ihr diesmal reinen Wodka gegeben, das soll auch gut für die Stimme sein und macht Haare auf der Brust.

Schlagfertig

Lissy: Er sieht deprimiert aus, der Arme.
Charlotte: Deprimiert mag er wohl sein, aber arm ist er ganz gewiss nicht.
Lissy: Ich höre.
Charlotte: 10000 pro Jahr und ihm gehört halb Derbyshire.
Lissy: Die deprimierende Hälfte?
("Pride And Prejudice", der Film)


Grappa

Über alles wünsche ich mir, schlagfertig zu sein, so sehr, dass ich die größten Gemeinheiten von mir geben kann und doch immer die Lacher auf meiner Seite habe.
Leider weiß ich nie das Richtige zu erwidern, wenn es darauf ankommt. Nicht bei dem Vorwerk-Mann, der mir zweimal im Jahr einen Staubsauger andrehen will; auch nicht bei dem Verleger, der mein Buch von dreihundert auf hundertfünfzig Seiten runterschrumpft, weil die Hälfte meiner Texte abgekupfert sei (woher weiß er das?). Auch nicht beim Finanzamt.
Hinterher fällt mir natürlich immer ein, was ich hätte sagen müssen. Aber dann bringt es nichts mehr.
Das letzte Mal passierte es vergangenen Samstag beim Einkauf. Vor unserem Supermarkt ist ein großer Parkplatz mit Parklücken auf beiden Seiten. Man fährt einspurig hinein und parkt links oder rechts. Nach dem Einkauf fährt man auf der anderen Seite wieder hinaus, ein U beschreibend. Bisher bin ich so gut wie immer auf der falschen Seite in das U hineingefahren. Auf der richtigen Seite sind nämlich immer alle Parkplätze besetzt und man muss ganz herum, um eine Lücke zu finden. Da nehme ich lieber die Ausfahrt als Einfahrt und kann gleich einparken.
Gerade als ich ausstieg, hielt hinter mir ein dunkelblauer Corsa. Ein ganz ordinärer PKW, ohne irgendein auffälliges Merkmal. Am Steuer ein Mann im dunkelblauen Pullover. "Sie!", rief er. Ich nahm ihn erst mal nicht zur Kenntnis. Zog meinen Einkaufskorb vom Rücksitz und klappte die Tür zu. "SIE!", brüllte der Mann. Es hätte albern ausgesehen, wenn ich ihn weiter ignoriert hätte. Ich ging auf den Corsa zu. Der Mann hatte das Fenster runtergelassen.
"Wissen Sie nicht, dass hier Einbahnstraße ist? Sie fahren in die falsche Richtung!"
Mir lag schon eine Erwiderung auf der Zunge wie: Danke, Herr Lehrer! - oder so was Ähnliches. Nicht wirklich witzig. Es ist mir, wie gesagt, nicht gegeben, in solchen Situationen spontan was Witziges zu sagen. Jedenfalls machte ich den Mund auf und klappte ihn sofort wieder zu, denn in diesem Augenblick sah ich das runde gestickte Emblem "Polizei" auf seinem Pullover.
Er ist im Zivil, kann der mir was? - schoss es mir durch den Kopf, und dann: Lieber nichts riskieren! Aber es musste doch irgendwas geben, was ich sagen konnte! Etwas, was nicht frech klang, aber mir half, mein Gesicht zu wahren! Ich machte den Mund auf und musste plötzlich schrecklich husten. Ich hielt die Hand vor den Mund. Und aus meiner krampfenden Kehle schoss etwas in meine hohle Hand, etwas Kleines, Feuchtheißes. Erschreckt ballte ich die Hand zusammen.
"Das nächste Mal denken Sie dran!", sprach die Stimme der Exekutive.
Ich wollte "Ja" und "Entschuldigung" sagen, brachte aber nichts heraus. Meine Kehle schien völlig verschlossen zu sein. Das kleine feuchtheiße Ding wand sich in meiner Hand. Es fühlte sich glitschig und quabbelig an wie ein gut durchgekauter Kaugummi.
Der blaue Corsa fuhr an und rollte vom Parkplatz herunter, in die richtige Richtung natürlich.
Ich öffnete vorsichtig die Hand und schaute hinein. Das Ding war rosa und annähernd wurstförmig mit ein par Einschnürungen. Es war so klein wie ein aus dem Nest gefallener nackter Vogel und sah auch so ähnlich aus, bis auf den Umstand, dass es knochenlos war. Während ich es anstarrte, machte es plötzlich einen zuckenden Hüpfer und quietschte. Es gab einen hohen, hohlen Ton.
Es war meine Stimme. Meine Stimme war mir aus dem Hals gesprungen.
Da gab es keinen Zweifel. Denn in meinem Hals war nichts mehr; ich versuchte, mich stimmhaft zu räuspern, aber es kam nur ein Rascheln wie von welkem Laub heraus. Ich hatte keine Stimme mehr. Sie lag in meiner Hand.

Ohne einzukaufen, hastete ich nach Hause, die Hand um die Stimme gekrampft. Was sollte ich damit machen? Feucht halten, bestimmt. In Formalin einlegen. Aber so was hatte ich natürlich nicht im Haus. Vielleicht tat es auch hochprozentiger Alkohol? Ich bin keine Schnapstrinkerin. Bier genügte sicher nicht. Ich fand eine kleine Flasche Grappa im Küchenschrank, die mir mein Nachbar mal geschenkt hatte. Das Zeug war uralt, aber Alkohol verfällt ja nicht. Oder? Ich füllte ein ausgewaschenes Marmeladenglas mit Grappa voll und tat die Stimme hinein. Sie quietschte und hickste, dann versank sie blubbernd in der Flüssigkeit.
Ich versuchte, in Ruhe zu überlegen. Wie implantiert man eine Stimme wieder in den Hals? Bei Problemen aus unbekannten Fachgebieten setze ich mich normalerweise an den Rechner und bemühe Google. Das war in diesem Fall bestimmt aussichtslos - ich hätte nicht einmal gewusst, welche Suchworte ich eingeben sollte. Den Arzt anrufen? Ich hatte schon den Hörer in der Hand, da fiel mir ein, dass ich nicht mehr reden konnte. Meine Stimme lag in Grappa.

Blubbern als Kunst!

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