Das erste Mal passierte es in der Metro, wahrscheinlich beim Umsteigen. Ich kann mich erinnern, dass ich in einer Station in der Innenstadt rennen musste und ziemlich viel Gedränge herrschte. Fünf Minuten später, als ich im Wagen stand, merkte ich, dass meine Handtasche offen war. Mein Geldbeutel war verschwunden.
Ich konnte es nicht glauben. Drei Stationen weiter stieg ich aus, zog mich in eine ruhige Ecke zurück und leerte meine Handtasche aus. Mein MP3-Player steckte noch drin, Gott sei Dank, und die Brieftasche mit meinem Führerschein auch. (Den Führerschein bewahre ich gesondert auf, weil es noch einer dieser grauen Lappen ist, die in keinen Geldbeutel passen.) Der Geldbeutel war jedoch weg und mit ihm mein Personalausweis, ungefähr achtzig Euro Bargeld, mein Linsenpass, ein Foto von meinen verstorbenen Zwerghäschen, die Bibliothekskarte und drei Rabattmarken vom Bäcker. Das Geld konnte ich verschmerzen, aber den Personalausweis brauchte ich nächste Woche für den Flug nach Hause.
Gleich am nächsten Tag fuhr ich zur deutschen Botschaft. Natürlich wieder mit der Metro, ging ja nicht anders. Die Botschaft war in einem großen grauen Gebäude mit einem Geländer zur Straße hin, das mit nadelscharfen Spitzen bestückt war. Es sah gefährlicher aus als Stacheldraht. Ich wurde mit einem Metalldetektor gefilzt und durfte in die Amtsstube eintreten. Es gab zwei Schalter, der eine unbesetzt, hinter dem anderen saß eine glubschäugige junge Frau. Eine dicke Glaswand trennte sie von mir. Als sie mich kommen sah, winkte sie und beugte sich zu einem Mikrofon herunter, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand. „Nehmen Sie Platz“ krächzte es aus einem Lautsprecher über dem Schalter. Wenigstens sprach sie Deutsch. Ich setzte mich und erklärte mein Anliegen.
„Können Sie sich ausweisen?“
Ja, ich hatte noch meinen Führerschein. Ich griff nach der Handtasche. Sie war offen. Diesmal waren die Brieftasche mit dem Führerschein und der MP3-Player weg.
„Tja, dann muss ich rückfragen“, quäkte der Lautsprecher. „Haben Sie Anzeige bei der Polizei erstattet?“
Polizei? Da würde ich doch nur ausgelacht. Die musste sich um Raubmorde, Schlägereien und Falschparker kümmern.
„Sie müssen zur Polizei. Der Verlust muss der Interpol gemeldet werden.“ Ach ja, natürlich, die Rabattmarken und die Bibliothekskarte. Da drohten internationale Verwicklungen.Ein Formular wurde mir zugeschoben. Ich sollte Namen, Geburtsort und Wohnort ausfüllen. Erschrocken merkte ich, dass ich schon Probleme hatte, mich an meinen Geburtsort zu erinnern. Womöglich gab es mich bald gar nicht mehr, wo ich ohne Ausweise dastand?
„Machen Sie erst einmal gute Fotos. Da drüben steht ein Automat. Ich telefoniere inzwischen nach Deutschland.“
Wen wollte die anrufen? Meine Eltern leben nicht mehr. Mein Bruder war auf der Arbeit, da geht er nicht ans Telefon. Mein Geschiedener würde mich sowieso verleugnen. Meine Häschen sind tot.
Sie hatte schon den Telefonhörer in der Hand und winkte ungeduldig seitwärts. „Gehen Sie da rüber. Machen Sie gute Fotos.“
Der Automat war Gott sei Dank mehrsprachig. In der Kabine hing ein Plakat, dem man entnehmen konnte, wie das Foto auszusehen hatte. Ich durfte keine Haare im Gesicht hängen haben, keine Sonnenbrille tragen und nicht verschleiert sein. Ich sollte den Kopf gerade halten und neutral dreinschauen. Letzteres fiel mir schwer. Der Hocker war zu niedrig, und ich wusste nicht, wie ich ihn höher stellen konnte, also reckte ich das Kinn hoch, was wohl nicht sehr neutral aussah, eher kämpferisch. Der Automat machte „Puff“. Auf einem Display erschien ein Vorschaubild. Es war nichts darauf.
„Wenn Sie ein neues Bild möchten, drücken Sie innerhalb von fünf Sekunden den roten Knopf“, stand darunter. „Sie können bis zu drei Bilder machen.“
Ich drückte den roten Knopf. Was soll ich mit einem Foto, auf dem nichts ist, weder kämpferisch noch neutral? Erneut machte es „Puff“ und ein neues Vorschaubild erschien. Wieder war nichts darauf.
Ich zog den Vorhang zurück und rief nach der Schalterdame. „Hallo … ich glaube, der Automat funktioniert nicht. Können Sie bitte …“ Der Automat rasselte. Da ich diesmal nicht den roten Knopf gedrückt hatte, nahm er wohl an, ich sei mit dem zweiten Foto zufrieden. Aus dem Schacht an der Seite rutschten drei Fotos, auf denen nichts war. Wahrscheinlich war ich einfach nicht mehr vorhanden.
Hilfesuchend sah ich mich nach dem Schalter um. Die junge Frau schien auch nicht weitergekommen zu sein. Sie hatte den Telefonhörer am Ohr und runzelte die Stirn. „Ich komme nirgends durch. Kann es sein, dass die Gemeindeverwaltung bei Ihnen zu Hause nicht besetzt ist?“
Klar, das war die Sekretärin in der Gemeindeverwaltung, diese Zimtzicke. Die konnte mich nicht mehr leiden, seit ich einmal eine Satire über die Sperrmüllentsorgung geschrieben hatte. Jetzt stellte sie sich einfach tot.
„Ich kann es an Ihrem Geburtsort versuchen. Wie hieß der noch mal?“
Ich wusste es nicht mehr. Den hatte man vor dreißig Jahren eingemeindet.
„Wenn Sie es bei meinem Zahnarzt versuchen?“, schlug ich vor. „Der kann mit Sicherheit für mich bürgen. Mein Zahnstatus ist einzigartig.“
Sie starrte mich wortlos an.
„Oder der Linsenpass. Meine Optikerin …“ Nein, das kam auch nicht in Frage. Mit meiner Optikerin war ich seit einem Monat zerstritten, weil ich ihre Reklamewurfsendungen sexistisch und präpotent genannt hatte. Die würde mich auch verleugnen.
Ich machte einen letzten Versuch: „Der Bäcker müsste sich doch an mich erinnern können. Weil, ich hatte doch drei Rabattmarken …“ Dann fiel mir nichts mehr ein. Die drei Fotos zeigten immer noch Leere.
„Vielleicht gehen Sie erst mal zur Polizei und erstatten Anzeige“, sagte die Frau energisch. „Das müssen Sie sowieso tun. Bis das erledigt ist, bin ich vielleicht durchgekommen. Haben Sie Fotos gemacht?“
Ich reichte ihr die drei Bilder, auf denen nichts war. Ohne eine Miene zu verziehen, schnitt sie eines davon ab und klebte es auf das Formular, das ich ausgefüllt hatte.
Auf dem Weg zur Polizei kam dann meine Handtasche weg. Ich habe gar nichts davon mitbekommen. Aber sie war ohnehin leer bis auf ein Sudoku-Heftchen, in dem fast alles gelöst war, und die Wochenkarte für die Metro.
Der Rückweg zum Hotel dauerte sehr lange, weil ich zu Fuß ging.
Aber das ist wahrscheinlich eine gute Übung, denn wie es aussieht, werde ich auch zurück nach Deutschland zu Fuß gehen müssen.
schmollfisch - 27. Apr, 22:31
Es ist das erste Haus links neben der Kirche.
Ein altes Gemäuer, aus den Fünfzigern ungefähr, schätzt er. Es ist grau verputzt und hat einen verklinkerten Sockel. An der Seite hängt ein kleiner Küchengarten, der völlig zugewuchert ist mit Brombeerranken und einem mannshoch gewachsenen Zeug, das dicke stachlige Stengel hat und bedrohlich aussieht. Herkulessträucher.
Es steht seit zwei Jahren leer, aber die Nachbarin hat die Schlüssel. Ich rufe an und sage Bescheid, dass Du das Haus sehen möchtest, dann wird sie dir aufschließen. Du kannst bleiben, solange du willst. Es sind allerdings keine Möbel da, und Strom und Wasser sind abgestellt.
Nach hinten hinaus ist ein unverputzter Giebel, der sich gefährlich seitwärts lehnt; wahrscheinlich ein unfachmännisch ausgeführter nachträglicher Anbau.
Die Nachbarin, die die Schlüssel hat, ist eine große, grobknochige Person mit einer merkwürdigen Narbe an der Schläfe – der Kopf sieht aus wie eingedellt. Er registriert das am Rande; es könnte vielleicht mal wichtig werden. Erst mal lässt er sich die Haustür aufschließen und ist dankbar, dass die Nachbarin sofort wieder verschwindet. Eigentlich auffallend schnell, aber auch das registriert er nur am Rand.
Ich lag im Bett, mein Vater hinter mir. Er schlief weiter. Ich wurde wach, weil etwas Großes herein gekommen war. Mein Vater schlief weiter.
Hinter der Haustür zieht sich links ein helles Treppenhaus nach oben, mit einer geschlossenen Holztreppe, wie sie heute kein Mensch mehr baut. Durch ein Oberlichtfenster fällt trübe Helligkeit auf die oberen Stufen. Staubflusen tanzen in der Luft. Er geht nicht die Treppe hinauf, sondern wendet sich nach rechts zu der (offen stehenden) Flurtür. Hier beginnt der wacklige Anbau. Jemand, der fand, dass alle Zimmer zu klein seien, hat einen Durchbruch geschaffen und zusätzliche Türstürze eingebaut. Man erkennt noch die alten Außenwände. Die Räume sind unmöbliert, aber er findet ein Bild an der Wand, einfach ohne Rahmen auf die verblichene Tapete geklebt. Offenbar aus einem Monatskalender gerissen; die Perforationslinie am oberen Rand ist noch zu erkennen. Ein Schaf, das vor einer Pfütze steht und sein Spiegelbild anschaut.
Hier beginnt die ungute Seite des Hauses. Er fotografiert das blöde Schaf, die zerschrammten Bodendielen, die schief in den Angeln hängende Tür in den hinteren Raum, die Zimmerdecke, von der Spinnweben baumeln.
Ich habe vesucht, eine Zeichnung davon zu machen, wie ich es damals gesehen habe. Ich weiß, dass es so nicht stimmen kann, aber ich habe es so gesehen. Es stieß mit dem Kopf an die Zimmerdecke, es streckte die Zunge heraus und leckte an der Decke. Mein Vater lag hinter mir. Er schnarchte. Ich habe mich nicht getraut.
schmollfisch - 25. Apr, 01:39
Ich habe zwei neue Dummsätze, gefunden diesmal bei Stieg Larsson. Ja, ich habe mich endlich durchgerungen und die komplette Trilogie gelesen. (Die zweite Hälfte des dritten Bandes nur noch quer, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.)
Dummsatz 1 (zitiert aus dem Gedächtnis):
"Er nahm einen leeren Block aus seiner Mappe und schlug eine unbeschriebene Seite auf."
Woraus wir entnehmen können, dass Herr Larsson Wert auf Gründlichkeit legt. (Wahrscheinlich war er Deutscher, ohne es zu wissen.)
Dummsatz 2:
"Er fegte eine Stunde lang den Boden, wischte Staub, scheuerte das Bad, nahm den Kühlschrank in Betrieb, kontrollierte die Wasserhähne und bezog sein Bett (...)"
Tja, gründlich wie immer. Wenn ich eine Stunde lang den Boden gefegt hätte, dann wäre ich so fertig, dass ich weder Wasserhähne kontrollieren könnte noch das Bett beziehen. Geschweige denn das Buch auslesen.
Aber ich will nicht patzig werden. Schlecht ist das Buch wirklich nicht. Nur nicht so gut wie Mankell. Und sogar der hat Dummsätze geschrieben. Wie jeder. Ich auch.
schmollfisch - 22. Apr, 00:59
Mein früherer Schreibgruppenleiter hat mir mal (bei einer Sprechprobe für eine Lesung) gesagt, in Südeuropa aufgewachsene Leute hätten beim Singen und Sprechen einen automatischen Vorteil. Weil die Menschen dort viel mehr Zeit im Freien zubringen, könnten sie lauter. Italien ist ja nicht umsonst das Heimatland der guten Tenöre. Auch Südfranzosen unterhalten sich gern temperamentvoll und schreiend. Spanier hingegen überhaupt nicht. Es wird zwar viel geredet in Spanien. An Bushaltestellen und Straßenecken fangen die Leute sofort ein Gespräch an. Aber, das ist der Punkt, Spanier reden weder laut noch gleichzeitig. Typisches Bild ist, dass mehrere zusammenstehen, also mindestens zwei, und einer redet. Die anderen hören zu. Der Redende spricht so leise und gleichmäßig, als halte er eine Vorlesung. Die klassische Geste dazu ist ein leichtes Wippen einer geöffneten Hand mit aneinandergelegtem Zeigefinger und Daumen. Der Tonfall ist fortfließend ohne Pausen und ohne auffallende Betonung. Dem Zuhörenden sind Einwürfe wie "ah", "ahem", "hmpf" und "si" erlaubt, solange sie den Redefluß nicht stören. Kurz gesagt, Spanier sind große Monologisierer.
Da ich selbst kein Spanisch verstehe, habe ich mich oft gefragt, worüber man so lange und unaufgeregt reden kann. Ich könnte zum Beispiel zehn Minuten lang von meinem Schwager erzählen, meine Haustür beschreiben oder erklären, wie eine Strickmaschine funktioniert. Aber das will doch keiner wissen. Worüber reden Spanier? Eine Zeitlang nahm ich an, sie erzählen einander Geschichten. Spanier schätzen Geschichten sehr, sonst würden nicht so viele mit aufgeschlagenem Buch in der Metro stehen. Wenn sie nicht gerade reden, lesen sie. Sogar beim Aussteigen, Erklimmen der Rolltreppen und bei den letzten Metern Gehweg zum Arbeitsplatz lesen sie weiter. Wenn so ein Spanier mit einem anderen zusammensteht und monologisiert, erzählt er vielleicht, was er zuletzt gelesen hat, dachte ich.
Bis ich unseren Hotelrezeptionisten in Madrid gefragt habe, wie lange ich mit meiner Metro-Dauerkarte noch fahren kann. Genauer gesagt, meine Tochter fragte und ich stand dabei. Es war eine Wochenkarte, Samstag gegen vier Uhr nachmittags gelöst, und unsere Frage (die wir Freitagabend stellten) war die, ob diese Karte am Folgetag, also Samstag, noch benutzt werden könne.
Der Rezeptionist, ein freundlicher junger Mann, nahm die Karte in die Hand, betrachtete sie von allen Seiten und fing an zu reden. Er redete sehr lange. Sehr, sehr lange, in verbindlichem Ton und mit einer Miene, die zu besagen schien, dass er sich intensiv mit unserer Frage auseinandersetzte. Ich verstand kein Wort. Aber ich konnte sehen, dass er mehrmals etwas an seinen Fingern abzählte.
Hinterher fragte ich meine Tochter: "Was hat er gesagt, gilt die Karte noch?"
"Er weiß es nicht", sagte sie.
Darüber musste ich erst mal nachdenken. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben.
"Wenn er es nicht weiß, was hat er dann die ganze Zeit geredet?"
"Er hat die Karte in die Hand genommen. Ja, das sei eine Wochenkarte. Und die sei gelöst am Samstag, sechzehn Uhr dreizehn. Da in der Ecke steht es, Samstag sechzehn Uhr dreizehn. Die Karte gilt eine Woche. Also bis zum Samstag drauf sechzehn Uhr dreizehn. Heute ist Freitag, jetzt ist es gerade neunzehn Uhr dreißig. Also gilt die Karte heute noch, weil sie Samstag, sechzehn Uhr dreizehn abläuft. Die Karte ist eine Wochenkarte, das heißt, sie gilt sieben Tage. Gelöst am letzten Samstag. Heute haben wir Freitag. Das sind seit letzten Samstag (zählt an den Fingern ab) Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag, also sechs Tage, und morgen gilt die Karte bis sechzehn Uhr dreizehn, das sind dann genau sieben Tage. Nach sechzehn Uhr dreizehn dann wohl nicht mehr, weil das mehr als sieben Tage wären. Samstag sechzehn Uhr dreizehn, dann (zählt an den Fingern ab) Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und der halbe Samstag bis sechzehn Uhr dreizehn, das sind genau sieben Tage. Er ist nicht sicher. Aber er meint, normal dürfe die Karte nur noch bis morgen sechzehn Uhr dreizehn gelten. Du kannst also noch bis sechzehn Uhr zwölf damit Metro fahren. Das sind dann genau sieben Tage (zählt zum dritten Mal an den Fingern ab). Also morgen nach sechzehn Uhr dreizehn kannst du mit der Karte nicht mehr fahren. Aber sicher ist er nicht. Du kannst es ja einfach ausprobieren. Da sind doch die Durchgänge in den Metrostationen, die automatisch geöffnet werden, wenn man die Karte in den Schlitz steckt, da steckst du die Karte rein und wenn der Durchgang dann aufgeht, dann gilt die Karte noch. Wenn nicht, musst du eine neue kaufen oder zu Fuß gehen. Das hat er mir erklärt. Dann hat er mir Gott sei Dank die Karte endlich wiedergegeben."
Ich glaube, ich habe meiner Tochter daraufhin gesagt: "Ich will den als Schwiegersohn." Aber sicher bin ich nicht.
Am Tag darauf waren wir in Segovia und sahen uns eine Osterprozession an. Diese Prozessionen sind unheimlich, wegen der Vermummung, die viele der Teilnehmer tragen, dem merkwürdigen Wiegeschritt und der schrägen Musik, die manchmal dazu gespielt wird. Wenn keine Musik gespielt wird, schweigt die Prozession. Das ist wirklich unheimlich, diese Stille mittem in Spanien. Ich wurde von der Menschenmenge am Straßenrand verkeilt und konnte mich keinen Zentimeter mehr wegbewegen. Die Büßertruppe, in mitternachtslila Samt gekleidet und mit riesigen Spitzhüten auf den Köpfen, wankte an mir vorbei und kam zum Stehen, wohl wegen eines Hindernisses weiter vorne. Gerade vor mir zog sich einer der Vermummten die Kappe vom Kopf. Er sah ganz ähnlich aus wie unser Hotelrezeptionist, vielleicht Mitte zwanzig, nett und lustig mit spitz aus der Stirn gezogenem Haar und einem Silberring in der Augenbraue. Ein kleiner Teufel. "Qué calor", bemerkte er und lachte.
Ich habe noch gewartet (konnte sowieso nicht weg), aber mehr sagte er nicht. Ob ich doch lieber den als Schwiegersohn ...?
schmollfisch - 11. Apr, 00:37
Der Brief rutscht durch den Spalt unter der Wohnungstür, als sie gerade daran vorbeigeht. Ohne einen Laut schiebt sich das weiße Viereck ins Zimmer. Kein Klingeln an der Tür, keine Schritte im Flur, nur das weißt Kuvert auf dem Linoleum. Ohne Adresse darauf.
Die Klappe ist nicht zugeklebt und öffnet sich von selbst, als sie den Brief in die Hand nimmt. Der Umschlag ist leer bis auf ein Foto.
Sie setzt sich auf die Kante des durchgesessenen Sofas. In der Wohnung stehen kaum noch Möbel. Fast alles ist ausgeräumt. Das Bücherregal leer, die Türen des Kleiderschranks stehen offen. Ein einzelner Stuhl wendet dem dreibeinigen Tisch den Rücken zu, als wolle er nichts damit zu tun haben.
Als Kind hat sie Klavier gespielt, manchmal sogar in Schülerkonzerten mitgewirkt. Sie erinnert sich: Einmal ist mitten in ihren konzentrierten Spiel ein Journalist hinter sie getreten und hat sie fotografiert. Der plötzliche Lichtblitz aus der Kamera brachte sie aus dem Takt. Ihre Finger verhedderten sich, stolperten über ihren flinken Lauf auf den Tasten, sie hob die Hände und versuchte die Panik niederzukämpfen, und als sie die Finger wieder auf die Klaviatur legte, hatten sie keine Gelenke mehr und hingen kalt und steif an ihren Armen wie ein totes Gewicht. Mühsam und stolpernd brachte sie ihr Vorspiel zu Ende, es gelang nichts mehr. Seitdem hat sie es immer gehasst, fotografiert zu werden.
Seitdem hat sie kein Foto von sich ansehen können, ohne sich an diese Niederlage zu erinnern.
Sie betrachtet das Foto in ihren Händen. In der Türöffnung steht ein schwarzer Mann mit weißem Hemd.
Das ist aber nett, dass Sie schon fertig sind, sagt er. Die wenigsten sind so entgegenkommend.
schmollfisch - 26. Mär, 20:57
Das kleine Schwein hat einen singenden Zahn, der tief im Mund steckt, ganz hinten. Den ganzen Tag gibt er irgendwelche störenden Geräusche von sich. Das heißt, die Geräusche kommen gar nicht aus dem Zahn selbst heraus, sondern werden durch die Zahnwurzeln in den Kopf geleitet. Ohne erst den Umweg über die großen Knickohren zu machen.
Wenn das kleine Schwein ein Mensch wäre, wüsste es, dass es irgendwann auf etwas Metallisches gebissen hat und der Zahn damals das Singen gelernt hat; erst nur zögerlich, mit hin und wieder einem Streichquartett, den neuesten Hochrechnungen und ganz vielen Pauken. Dann hat sich der Zahn gesteigert und vom Reisewetter erzählt. Wie gut die Sangria just eben in Palma de Mallorca munde, wo es dort gewittre wie nicht gescheit, und wie an der Nordküste Sardiniens ein Wal gestrandet sei und vor sich hinstinke. Ja. Eine freundliche Stimme, mit nur schwach hysterischem Unterton, erzählt das. Eben eine Menschenstimme, die Nachrichten spricht. Nichts Besonderes.
Das kleine Schwein begibt sich manchmal aus dem nächtlichen Wald hinaus auf einen Abhang, nicht viel mehr als eine sanfte Fallung, man könnte bei Schweinewetter gut auf dem Bauch hinunterrutschen die ganzen zweihundert Meter weit; und dort gräbt es Kartoffeln aus. Viel gibt der Acker nicht her, aber doch weit mehr, als das kleine Schwein auf einmal hinunterschlingen mag. Es gruffelt und muffelt zwischen den Saatkartoffeln herum, gräbt die gelöcherte Schnauze zwischen das Kartoffelkraut und bedient sich satt. Unterhalb des Gehänges funkelt ein Lichtermeer. Ja. Da sind alle diese Leute zu Hause, die sich Hochrechnungen und gestrandete Wale in den Kopf winden lassen. Eine Schwatzgirlande, die an den Hirnwindungen hochrankt. Das schwache Echo im Kopf des kleinen Schweins ist nur ein Abglanz davon, aus großer Entfernung gehört gewissermaßen; all das geht ja auch kein Schwein was an.
Ja.
Was das kleine Schwein aber angeht, ist, dass plötzlich so viele dieser Menschen sich in den Kopf gesetzt haben, die Fallung hinauf zu wandern und dort, tief zwischen den schwarzen Bäumen, die Nacht zuzubringen. Das Schwein hat sich längst an die widerstreitenden Gerüche gewöhnt, die aus dem Tal heraufquellen, von Autos und Radfahrern hinaufgeschleppt und abgeladen, und jeden Wanderer umgibt dieses gleiche Aroma. Nun plötzlich schwindet das Aroma nicht mit dem Sinken der Nacht; in der kompakten Schwärze des Waldes, der dicht vor dem Kartoffelacker endet, breitet sich etwas aus und wuchert die Straße entlang längs der rotumrandeten Schilder, die einmal vierzig, einmal sechzig verlangen oder endlich die achtzig freigeben. Die fremden Aromen kommen, man glaubt es ja nicht, aus den Splitkästen. Das kleine Schwein braucht Wochen, um diese Annahme zu verifizieren, während in seinem Kopf Herr Wowereit dieses verspricht und Herr Westerwelle eh weiß, dass das nichts wird. Das ist nicht mehr als Hintergrundgeschwalle, das Schwein hat sich längst daran gewöhnt. Was ihm aber gar nicht passt, ist dieses Aroma aus den Splitkästen. Gute zwanzig gibt es davon über den Wald verteilt. Sie sind grün, länglich und Steinchen quellen heraus. Und sie stinken nach Käse. Es liegen Menschen drin. Zusammengeknäuelt und scharf riechendes Lumpenzeugs über den Kopf gezogen. Als ob sie weg wollten aus dem Lichtermeer.
Als ob sie die Schnauze voll hätten.
Ja. Und das kleine Schwein leert ihnen die Taschen; was immer sie bei sich tragen, Käsestücke, Brotkrusten oder Äpfel, das Schwein macht keine Unterschiede und bedient sich satt. Manchmal sogar an einer Salamiwurst. Obwohl der singende Zahn ihm sagt, dass das der Untergang des Abendlandes sei, dass Schweine Würste fräßen.
schmollfisch - 15. Mär, 00:55
- - können sie die augen öffnen? --
Er will nicht. Hinter den Augenlidern wird es strahlend hell. Das Letzte, woran er sich erinnern kann, ist das Chromgerippe, das auf ihn zuschnellte. Darunter das Nummernschild. Fremde Buchstaben. Das Muster der Dreckspritzer. Jeder Rostfleck, jeder Kratzer ist in die Netzhaut eingeätzt: Ein LKW, der ihn wie einen Tischtennisball von der Straße geschnippt hat.
- - hören sie mich? können sie die augen öffnen? --
Dann fällt ihm wieder ein: Er hob sich empor, so leicht wie eine Luftblase, die Welt geriet ins Trudeln, das Airbag platzte ihm entgegen und erschlaffte wieder, als zu liegen kam, sanft wie ein Schmetterling. Die Explosion von zerschmettertem Blech, die Erschütterung kamen erst einen Moment später: als habe ihn jemand mit einem gigantischen Hieb in den Rücken bis hinunter in die Kniekehlen zu Boden geschickt. Kein Schmerz. Nur ein Schlag, der ihm allen Atem genommen hat. Die Luft ist so vollständig aus seinem Körper herausgepresst, dass er nicht einmal genug Kraft zusammenbekommt, neu einzuatmen. Es scheint im Moment auch unnötig zu sein.
"Jetzt mache ich die Augen auf", denkt er und lässt sie geschlossen. Das geht drei-, viermal so im Kreis, bis er tatsächlich einen kleinen Sehschlitz öffnen kann und vor sich eine schwarze, konvex gebogene Fläche sieht: die Kunststoffverkleidung des Armaturenbretts, die sich vor sein Gesicht geschoben hat, nur wenige Fingerbreit entfernt. Das Lenkrad, das darunter sein sollte, ist außerhalb seines Sichtfelds gerutscht. Vermutlich ist es dort, wo eigentlich er selbst sein sollte oder noch ist. Etwas angenehm Warmes rinnt seine Nase entlang und tropft, nicht abwärts, sondern nach oben über die Stirn. Die Naturgesetze scheinen auf den Kopf gestellt. Er schließt die Augen, um darüber nachzudenken.
Etwas Weiches und Leichtes streift seine Wange, und als er seinen Sehschlitz wieder aufmacht, um die Welt hereinzulassen, hat er ein Notenblatt vor sich. So nahe, als wollte es fragen, wie es ihm denn ginge? Die Punkte und Striche auf dem Papier verschwimmen, dann löst sich eine dicke Träne aus jedem Auge und tropft aufwärts. Er selbst muss es sein, der kopfsteht, die Knie über sich (sofern er noch welche hat). Die Notenblätter haben den Rücksitz verlassen, auf dem er sie abgelegt hatte, und sich nach vorne begeben, um sich auf der Windschutzscheibe zu verteilen.
Er wollte singen, erinnert er sich plötzlich; irgendwo hinfahren und singen. Was es war, weiß er nicht mehr, wahrscheinlich irgendein Chorwerk, ein Oratorium – es muss etwas Langes und Gewichtiges gewesen sein, sonst wären der Notenblätter nicht so viele. Sie bedecken alles: die Frontscheibe, die mit verklebten Scherben im Wind flattert, die Scheibe zu seiner Linken wie mit schwarzer Teerfarbe bestrichen, die zur Rechten vernebelt; das Armaturenbrett, das sich nach oben beult wie schwere See.
Er ist des Todes, das weiß er, auch ohne seinen Körper zu sehen, durch den wahrscheinlich das Lenkrad hindurchgewandert ist. Aber er war unterwegs, um zu singen, und das ist es, was er zu Ende bringen will. Jetzt gelingt es ihm einzuatmen (er muss die ganze Zeit, während er nachdachte, ohne Luft ausgekommen sein), er atmet ganz ohne Schmerz nach hinten in die Flanken, wie man es ihm beigebracht hat, er spannt den Bauch an und stützt seine Stimme aufs Zwerchfell, ohne daran zu denken, dass er wahrscheinlich weder eine Stimme mehr hat noch Bauch oder Zwerchfell, auf das er stützen könnte; und er bringt ein Summen hervor, einen tiefen Ton, so tief, wie er es noch nie vorher geschafft hat. Er lässt den Ton ganz langsam los, am weichen Gaumen vorbeigleiten und von den dünnen Knochen in Nase und Wangen abprallen, bis die beifälligen Notenblätter, die Glasscheiben und alles, was von seinem Auto noch übrig ist, mitschwingen in einem langen Bogen. Für einen Augenblick sieht er ihn hinter dem Seitenfenster stehen und sich herabbeugen, den Fährmann mit seinem Ruder. Dann erstirbt ihm der Atem.
- - hören sie mich? können sie mich hören? bitte versuchen sie, die augen zu öffnen. Er fliegt zurück und prallt gegen das Armaturenbrett. Über ihm eine OP-Lampe, grüne Haube, Mundschutz, aufmerksame Augen, Hände. Er atmet ein. Zwischen ihm und dem Fährmann steht nur ein Lied.
schmollfisch - 12. Mär, 11:22
13.8.2009 kompletter Datenverlust und Schließung.
Der Schmollfisch grüßt von Herzen alle, die ihn hier besucht haben und die er besuchen durfte.
Ich stelle vor: die erste Anthologie der Schreibspechte, die aus dem harten Kern der verstorbenen Rhöner Literaturwerkstatt hervorgingen.
Das Buch heißt "Zu viel Bein" und enthält 28 Geschichten von sechs Autoren, darunter sechs von mir.
Wer Interesse hat: Das Buch gibt es für 9,90 Euro bei
Amazon hier und bei mir. annarinnschad at gmx punkt de oder annarinnschad at web punkt de.
"In dieser finsteren und verwundeten Gesellschaft kann Schreiben der Arbeit eines Spechtes gleichen, der einen Baum aushöhlt, um sich darin ein Nest zu bauen."
(Anne Lamott in
Bird by Bird)

schmollfisch - 22. Aug, 01:25